Tintorettos Engel
aber diese Augen füllten sich mit Tränen. Der von Durchfall begleitete Einzug des Pferdes in die Werkstatt geschah zum lauten Entsetzen von Faustina.«Fremde, Hunde, Hafenarbeiter, Tagelöhner, Affen, verdreckte Viecher … schlimmer als jeder Markt ist dieses Maleratelier», schimpfte sie entrüstet, während sie die beiden noch dampfenden, braunen Brotlaibe aus Mist auf dem Boden musterte.«Es würde mich nicht wundern, wenn du eines Tages Leichen mit nach Hause bringst.»«Hab ich bereits, meine Liebe», antwortete ich, woraufhin sie mich mit der Dochtschere tätschelnd ohrfeigte. Ich hatte mich stets an unsere Abmachung gehalten: In die Werkstatt kann jeder, ins Haus niemand. Meine junge Frau und meine Kinder gehörten allein mir.
Nachdem ich fertig war, brachten Schila und ich das Pferd zum Schlachter zurück. Betrübt lief Marietta hinter uns her und streichelte hin und wieder sein Maul. Nicht immer wittern es die Tiere, wenn ihnen der Tod bevorsteht. Noch einen Schritt vor dem Raum, in dem der Gaul zerlegt werden sollte, wedelte er jedes Mal, wenn Marietta ihn berührte, fröhlich mit dem Schwanz. Dann schubsten
ihn die Angestellten hinter eine Zwischenwand, und schon eine Minute später breitete sich sein Blut auf dem Boden aus. Marietta hielt sich noch immer die Ohren zu.«Kommen Pferde auch ins Paradies?», fragte sie anschließend, woraufhin die Schlachter in lautes Gelächter ausbrachen.«Nein, das ist schon zu voll, da ist kein Platz mehr für sie», antwortete ich und zog sie an der Hand mit mir fort. Plötzlich selbst niedergeschlagen, wurde mir bewusst, dass ich meinem Funken gern die Freude gemacht und ein weißes Pferd geschenkt hätte.«Wo ist denn das Paradies?», fragte Marietta beharrlich weiter.«Weit weg», sagte ich kurz angebunden, weil ich nicht wollte, dass mein Kind in Trauer verfiel.«Weiter weg als Deutschland?», flüsterte sie. Bestürzt hielt ich inne. Über Cornelia hatten wir nie gesprochen.
Ich nahm sie mit in die Kirchen, Gebetssäle und Häuser, die meine Gemälde zieren sollten - denn ich musste wissen, mit wie viel Schatten ich rechnen konnte, um die Farbmenge in den dunklen Bereichen zu verringern und um umgekehrt an sehr hellen Stellen besonders kostbare Farben zu verwenden. Dutzende Male besuchten wir die Markusbruderschaft. Auf den unbequemen Stufen der Marmortreppe sitzend, untersuchten wir den Verlauf des Sonnenlichts, das durch die Fenster fiel. Während ich den Herbergssaal regelrecht belagerte und berechnete, wie lange der Sonnenkegel auf den Wänden kreiste, kamen etliche gut gekleidete Herren jeglichen Alters vorbei - zuweilen auch mein Schwiegervater.«Papa», flüsterte Marietta nach einer Weile,«wo sind eigentlich die Frauen? Warum sieht man hier nicht eine einzige?»«Frauen kommen nur hierher, um Almosen in Empfang zu nehmen», antwortete ich. Und so lernte sie, dass es in Venedig nicht von Vorteil ist, eine Frau zu sein.
Auch in der einen Nacht, als ich in das Gebäude der Rochusbruderschaft eindrang, war Marietta bei mir. Wir verließen das Haus, als die Stadt im Schlaf versunken war und tiefschwarze
Finsternis herrschte. Das Flämmchen in der Laterne an der Spitze der Gondel sah aus wie ein Glühwürmchen. Von einer unterschwelligen Angst ergriffen, wie wenn man nach langem Grübeln endlich zu handeln bereit ist, dachte ich: In genau dieser Nacht, just in diesem Moment scheidet irgendwo jemand aus dem Leben, freut sich jemand, kommt jemand zur Welt, wünscht sich jemand, es möge niemals Morgen werden, kann jemand den morgigen Tag nicht erwarten, und in genau dieser Nacht werde ich dem Schicksal oder das Schicksal mir eins auswischen. Man wird mich verspotten, erniedrigen, zugrunderichten. Wer würde es schon wagen, sich derart bloßzustellen? Wer würde alles aufs Spiel setzen - und möglicherweise für nichts? Ich würde es.
Mit seinem dunklen, dichten Schatten tauchte der Glockenturm der Frarikirche die Nacht auf dem dahinter liegenden Platz in ein noch tieferes Schwarz. Aus dem Kloster erklang eine leise, schiefe Totenklage. Ganz in der Nähe hörte man jemanden schnarchen. Das Geräusch kam aus einem Haufen Pappe und Decken: Bettler, die auf den Stufen von San Rocco schliefen. Die neue Marmorfassade der Bruderschaft setzte der Nacht eine Art Heiligenschein auf. Zwar war die Scuola di San Rocco jünger als die Scuola di San Marco, doch verkehrte dort eine erheblich einflussreichere und ehrsüchtigere Klientel. Der Bau des neuen Sitzes hatte
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