Tintorettos Engel
hat.»«Machen Maler denn Politik, Vater?», fragte ich überrascht.«Unentwegt,
denn Prinzen und Herrscher entscheiden über ihr Schicksal! Einzig den Zeichnern von Kartenspielen und Anstreichern kann es egal sein, wer sie anführt», antwortete mein Vater.«Deswegen wirst du Färber, wie ich, dann braucht es dich nicht zu kümmern, wer Doge oder König ist.»
In Rom hätte ich Michelangelo endlich sagen können, dass ich - mit einer Hingabe, die ich hernach nur noch Gott erwies - alle seine Figuren studiert habe, obwohl ich sie nie mit eigenen Augen gesehen hatte. Dass ich, um mich als sein Jünger auszugeben, seine Skulpturen nachgebildet und an die Fassade eines venezianischen Palastes angebracht habe. Und da die Fassade auf den Canal Grande zeigte, auf dem tagtäglich Tausende von Menschen entlangfuhren, war es so, als hätte ich es in die ganze Welt hinausgeschrien. Dass sich die schönsten Tonnachbildungen seiner Statuen in meiner Obhut befanden - das Wertvollste, das ich besaß - und dass er deswegen in meinem Hause stets anwesend, regelrecht zu einem Teil von mir geworden war. Ich hätte ihm gedankt, mich so erhellt zu haben - und dafür, dass er mein Leben verändert hatte.
Am Abend vor der Abreise wurde mir jedoch bewusst, dass meine Lage in Venedig derart ungewiss war, dass ich, wäre ich weggegangen, nie wieder hätte zurückkehren können. Meine Gegner hätten meine Abwesenheit ausgenutzt, um mich in Verruf zu bringen und zu verleumden, und das Wenige, das ich mir so mühsam erarbeitet hatte, wäre verloren gewesen. Dieser Abschied wäre einer Art Ausweisung oder Verbannung gleichgekommen. Daher beschloss ich, auf eine günstigere Gelegenheit zu warten. Ich wollte weder wie ein Pilger auf gut Glück noch als Beigeordneter eines Hofstaats von Diplomaten fortgehen, sondern als Künstler geladen werden. Nie aber hat mich diese Einladung erreicht. Nach und nach nagelte mich die Arbeit an mein Atelier in Madonna dell’Orto fest. Dann begegnete ich Cornelia, Marietta wurde geboren, ich heiratete, und weitere Kinder kamen zur Welt. Schließlich starb Michelangelo und wurde nicht einmal
in Rom beerdigt, so war diese unentwegt aufgeschobene Reise - wie jede Reise oder Flucht - unmöglich geworden.
In jenem Moment aber, während sich Marietta die Hügel, Bäume und Bauernhöfe anschaute und sich jedes Detail in ihr Gedächtnis einzubrennen suchte, sah ich uns tatsächlich schon auf Reisen. Ich sah unsere Koffer auf dem Dach der Kutsche, wie wir uns in der Kabine gegenübersaßen und auf den Wegen Italiens hin und her geschüttelt wurden. Ich sah uns durch sonnendurchflutete Landschaften laufen - zwischen Pinien und Zypressen im Umland von Rom, zwischen den Ruinen antiker Bauten, zwischen verstümmelten Statuen, umgestürzten Säulen und Sarkophagen aus Marmor. Ich sah uns die mit Schnee bedeckten Alpen überqueren, als Gast in fremden Städten und unbekannten Schlössern. Ja, so dachte ich, ich werde ihr die weite Welt zeigen. Venedig erstickt uns. Wird immer drückender und schwüler. Ich darf mich nicht in meiner Stadt einsperren lassen, die Welt ist groß. Und wir brauchen Platz.
Als die Weideflächen allmählich kleiner wurden und die Bäume immer dichter standen und schließlich zu einem Wald zusammenrückten, starrte ich besorgt auf den Weg, der sich immer steiler in uneinsehbaren Biegungen den Berg hinaufschlängelte. Letzten Endes hatte ich durchaus etwas bei mir, das man mir wegnehmen konnte. Ich musterte Mariettas anmutiges Profil, die spitze Nase, von der ein paar Regentropfen fielen, die von der Kälte geröteten Wangen, das Grübchen im Kinn, die unter der Mütze hervorschauenden Locken und ihre schönen, von einem Lächeln umspielten Lippen. Auf einmal wurde mir bewusst, dass selbst ein schielender Bandit sie nicht für einen Jungen gehalten hätte. Hin und wieder merkte ich, wie ich sie anstarrte und nach etwas von mir suchte. Doch ich fand nichts.
Es dämmerte bereits, als wir das Tor des Anwesens erreichten. Die Villa der Morosini lag mitten im Wald auf der Kuppe eines steilen Hügels versteckt. Zu meiner großen Verwunderung befand
sie sich noch im Bau und war an allen Seiten von einem wuchtigen Holzgerüst umringt. Unter einem Vordach hockten Arbeiter beim Würfelspiel. Der Aufseher teilte uns mit, dass es Probleme gegeben habe - ein Einsturz - und dass der Vorsteher der Baustelle einen Monat zuvor entlassen worden sei. Sein Nachfolger habe die Treppe wieder herrichten und das Dach
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