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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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mal das andere Bein aus. Dann auch eine Hand. Ihr Haar verströmte einen Geruch nach Laub und Regen.
    «Mir ist kalt», flüsterte sie nach einer Ewigkeit.«Mir aber nicht», erwiderte ich gereizt,«im Gegenteil, warm ist mir.»Ich log und sagte dennoch die Wahrheit. Mir war kalt und heiß zugleich, ich zitterte und schwitzte, meine Hände waren Eisklumpen, und in mir stiegen Hitzewallungen auf.«Bitte, Jacomo, halt mich warm. Nimm mich in deine Arme.»«Nein. Was fällt dir ein? Erst soll ich dich mitnehmen, und dann kannst du nicht einmal ein paar Entbehrungen aushalten? Leg dich richtig hin und lass mich schlafen. »Stille. In dem hellen Rechteck, das durch das Fenster auf die frisch verputzte Wand projiziert wurde, zeichnete sich ein fliegender Schatten in Form eines schwarzen Dreiecks ab, der sofort wieder verschwand, wohin auch immer. Säuselnde, beseelte,
lebendige Nacht. Blut, das in den Adern pocht, und Schlaf, der sich nicht einstellt.«Kann ich näher zu dir heranrücken?», flüsterte Marietta.«Nein», antwortete ich. Noch immer trällerte dieser grausame Vogel seine drei elendigen Noten. Zweige peitschten das Gerüst. Ein Esel fing auf einmal fürchterlich an zu schreien: Es hörte sich an, als würde er abgestochen werden, doch ich wusste, es handelte sich um den inbrünstigen Schrei seiner Wollust. Um ein intensives Lustempfinden, das ihm die Sinne raubte.
    Nach einer Weile spürte ich etwas an meiner Wade. Ihr Fuß. So eisig, dass ich es nicht übers Herz brachte, ihn wegzuschubsen. Ich blieb reglos liegen, steif an die Wand gedrückt. Meine Nase berührte den Putz. Dem Fuß folgte erst das eine, dann das andere Bein. Ich spürte das Blut durch die Adern ihrer Oberschenkel fließen. Den Beinen folgte ein Arm, eine Schulter, dann alles Übrige. Marietta hatte sich wie eine Decke auf meinem Körper ausgebreitet. Ich tat so, als würde ich schlafen.
    Auch sie tat, als würde sie schlafen. Aber ihr unruhiger Atem verriet sie. Der hauchdünne, pulvrige Putz kitzelte in meiner Nase. Ihre kurzen Haare pieksten mich im Nacken. Sie rochen nach nassem Laub.«Warum drehst du dich nicht um?», flüsterte Marietta auf einmal.«Wenn du mich in deine Arme nimmst, wird mir bestimmt wieder warm.»«Nein», murrte ich und schaute stur zur Wand. Vor mir ein einziges milchig leuchtendes Weiß. Hinter mir Marietta, die an mir klebte. Fleisch, Sehnen, Muskeln und Knochen pressten sich an mich. Nie hatte ich mir bewusst gemacht, dass sie einen Körper besaß - wohlgeformte Beine und zarte, von samtweichem Flaum bedeckte Ärmchen - und dass ihr Busen gewachsen war, der sich nun wie eine feste Masse mit zwei spitzen Nägeln in meine Schulterblätter drückte. Ich hatte es einfach nicht bemerkt. Seit dreizehn Jahren lebte ich an ihrer Seite, und kein einziges Mal hatte ich sie mir angeschaut.
    «Warum hauchst du mir nicht wie die Ochsen in der Krippe deinen Atem ins Gesicht?», wisperte sie und nuckelte an meinem
Ohr, wie sie es als Kind immer gemacht hatte - denn sie meinte, ich schmecke nach Öl und Lack, so gut wie sonst keiner.«Darum nicht, Marietta.»Der schreckliche Vogel, die Zweige, die Insekten, der brünstige Esel, der Wind, der durch die offenen Fenster zog, der Geruch nach Laub und Regen, ihre spitzen, festen Brüste, alles war noch wie vorhin, nur viel stechender und viel intensiver - wie in einem Traum. Aber es war kein Traum. Noch nie hatte ich meinen Körper so bewusst wahrgenommen. Eine endlose Folter. Und sie so fürchterlich unschuldig. Sie wusste nicht einmal, dass sie eine Frau war. Was es bedeutete. Das hatte ich ihr nicht beigebracht. Alles hatte ich ihr beigebracht, nur nicht das. Das nicht. Als ich glaubte, sie wäre endlich eingeschlafen, als sich meine lähmende Anspannung allmählich löste, rutschte der zarte Arm um meine Kehle auf meine Brust hinab. Das kleine freche Händchen spielte mit den Locken um meine Brustwarzen, später aber krabbelten ihre Finger an den Härchen bis zum Bauchnabel und darüber hinaus, und da drehte ich mich um.
    Im Licht der Glut sah ich ihre Augen leuchten. Sie war so ahnungslos, so glücklich - ich ließ mich umarmen. Wir kullerten in die Mitte der Liege. Einen Augenblick lang hefteten sich Haut, federweiche Härchen und spitze Brüste an mich. Ihre zarten Knochen lagen auf meinen. Ich aber war in genau diesem Augenblick nicht mehr ahnungslos. Ich sprang auf. Die Glocke zu meinen Füßen schepperte. Der Schwengel hatte sich in meine Ferse gerammt und mich verletzt.

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