Tintorettos Engel
holpriger, sodass ich ihn immer seltener ging. Gemeinhin führt man Kaltherzigkeit gern auf das Alter zurück. Ich jedoch habe für meine Nonnen stets gesorgt. Damit es ihnen an nichts mangelte, bezahlte ich regelmäßig ihr Kostgeld und bestritt sämtliche Ausgaben, die ihnen ein paar zusätzliche Annehmlichkeiten bescherten. Sie haben ein Bett, einen Schreibtisch, Handtücher, ihre Aussteuer, Stoffe zum Nähen, sogar Feuerböcke für den Kamin erhalten. Jedes Jahr bekommen sie einen Kübel Wein von unseren Reben, einen Sack Mehl und etliche Obstkörbe. Für ihre Zelle habe ich ihnen ein Altarbildchen mit der Jungfrau Maria gemalt - dass diese sie behüte und beschütze. Da ich weiß, dass sie glücklich sind, stimmt mich der Gedanke an sie fröhlich. Es freut mich zu wissen, dass sie für mich beten. Niemand konnte mir jemals vorwerfen, sie vergessen zu haben. Ich nahm sie mir weg, um sie dir darzubringen. Ich entzog sie einer sterblichen Familie, um sie Teil der einzigen Familie werden zu lassen, die ihnen das ewige Leben schenken wird. Ich ersparte ihnen die täglichen kleinen Misserfolge, die ehelichen Pflichten, die Gefahren der Entbindung, das klägliche Dasein, das ihnen sonst bevorgestanden hätte. Du, Herr, wirst über meine Taten zu urteilen wissen.
Es war noch düster, als ich mich aus dem Haus schlich, nach einer zermürbenden Nacht, in der ich mehrere Male das Gefühl
hatte, in der einen Ecke des Zimmers, dort, wo es stockfinster war, Marietta und Gabriele sitzen zu sehen - Marietta als Erwachsene und als Kind -, die miteinander tuschelten, kicherten und irgendetwas ausheckten. Die Fassade von Madonna dell’Orto - mit ihren vielen Farben, den roten Ziegeln und dem weißen Stein - tauchte aus dem graublauen Meer der Morgendämmerung auf. Die Vorstellung, dass sie immer so sein wird, auch wenn ich sie nicht mehr sehen werde, tröstet mich. Der Fortbestand der Dinge und Orte, die uns ans Herz gewachsen sind, hält in mir die Hoffnung wach, dass auch etwas von uns in ihnen fortbesteht. Die Mönche in ihren himmelblauen Kutten machten sich bereits in früher Dämmerung im Klostergarten zu schaffen - einer goss die Heilkräuter, ein anderer stutzte Rosen. Neuerdings pflegte ich mit den Mönchen über die letzten Dinge zu sprechen. Alles andere schien mir keinen Sinn mehr zu ergeben. Für mich sind diese Unterhaltungen geistige Übungen, mit denen ich meinen Verstand und mein Gedächtnis wachhalte. Und auch meine Unruhe besänftige, die an mir nagt wie das Wasser an Venedigs Fundamenten, an meinem Haus, an allem.
«Letzten Dienstag», hob ich an,«habe ich wahrscheinlich davon geträumt, tot zu sein, allerdings war ich in meinem Tod auf einmal wieder dreißig Jahre alt - mein Körper sah jung aus, und ich strotzte vor jugendlicher Stärke. Sagt mir, Brüder, wenn wir am Tag des Jüngsten Gerichts unseren Körper wiedererlangen, werden wir dann auch unsere Jugend, unsere Schönheit und unser Feuer zurückbekommen? Wird meinem Körper nach meiner Erlösung dieselbe Glückseligkeit widerfahren wie meiner Seele? Werde ich auch mein Geschlecht wiederbekommen? Werde ich wieder Lust empfinden, und wird es für immer sein? Wie kann ich bei der Zusammenführung am Quell allen Seins vollendete Glückseligkeit erfahren, wenn mir mein Körper nicht unversehrt zurückgegeben wird? Denn nicht das Bewusstsein, sondern der Körper hat mir Ekstase beschert, wie auch die Gewissheit, mit der Unendlichkeit
eins zu werden. Ihr habt mich gelehrt, dass die Inkarnation - die Fleischwerdung des Geistes - das höchste Streben des Christentums und zugleich dessen ewig währender Stein des Anstoßes ist. Wie kann man also in der Ewigkeit der Auferstehung das Fleisch vom Geist trennen? Mein Körper ist doch ein Teil von mir.»
Die zutiefst erschütterten Mönche entgegneten, ich würde versuchen, das Übernatürliche und Übersinnliche mit dem Wirklichkeitssinn eines zu beschränkten und vergänglichen menschlichen Verstandes zu erklären, und das stürze mich in Beklemmung und Angst und hindere mich daran, mich der grenzenlosen Wahrheit des Glaubens zu öffnen. Denn die Wahrheit brauche keinen Verstand, da dieser zu keiner Wahrheit führe. Mariettas rotes Kleid erwähnte ich jedoch nicht. Noch das zehrende Fieber, die Schlaflosigkeit oder die sich hinziehende Appetitlosigkeit. Ich fühlte mich gut, leicht und wie in einem behaglichen Rausch umherschwebend. Die Mönche meinten, nur einer verwirrten Seele würden solch schlechte
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