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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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Träume und böse Gedanken entspringen, und rieten mir zu einer Gesinnungsprüfung. Erst wenn ich beim Schöpfer allen Seins um Vergebung meiner Sünden gebeten hätte, könne ich wieder Trost im Schlaf finden und zur Ruhe kommen. Aber ich wollte weder schlafen noch zur Ruhe kommen. Ich fürchte mich vor mir und dem Schatten, wenn sich mein Bewusstsein verfinstert. Ich will mir meiner selbst vollkommen bewusst bleiben.
    Im Gespräch mit den Mönchen verspürte ich plötzlich eine tiefe Sehnsucht nach meinen Töchtern. Keine einzige habe ich gehabt, Herr. Anstatt dieses Klosters hier sollte ich besser ihr Kloster am anderen Ende von Venedig aufsuchen. Ihre Abwesenheit machte sich in unserem Familienleben kaum bemerkbar. Ohne Aufsehen zu erregen, sind sie ausgezogen. Als ich mich eines schönen Tages zu Tisch setzte, fiel mir auf, dass an ihrem Platz nicht gedeckt war. Das war tatsächlich schon alles.
    Ich machte auf der Stelle kehrt. Zu Hause befahl ich der
Dienstmagd, einen Korb mit reichlich Marzipan vom Vortag und Kirschen zu füllen - auf die unsere Nonnen geradezu versessen sind - und dem Kloster Sankt Anna zu überbringen. Dann ließ ich die Wanne mit Wasser füllen und nahm ein heißes Bad. Ich hoffte, durch Schwitzen das Fieber loszuwerden und so meine Beschwerden zu lindern. Schlaflosigkeit jedoch muss einen nicht beunruhigen oder sorgen, gehört sie doch zu den ganz normalen Gebrechen des Alters. Nur junge Leute fallen regelmäßig in tiefe Bewusstlosigkeit: Sie haben keine Angst davor, am nächsten Morgen nicht wieder aufzuwachen.
    Meine Frau schaute zu, während ich mit der Bürste meinen Rücken schrubbte und mir das Gesicht einseifte. Ihr Eigentumsrecht an meinem Leib macht sie zu einer wachsamen und argwöhnischen Aufseherin. Noch immer hat sie Angst, ich könnte ihr entfliehen. Unermüdlich sieht sie in mir den Mann, der ich einmal gewesen bin - die Kraft und Energie, die ich immer seltener für sie aufbringe. Da ich nicht von ihr begleitet werden wollte, verschwieg ich ihr, wohin ich ging. Ich bildete mir ein, mich mit unseren Nonnen über Dinge zu unterhalten, die Faustina nicht verstehen würde. Nie habe ich den Geist meiner Frau mit der gleichen Hingabe erkundet wie ihren Körper. Ihre Gedanken interessierten mich nicht, vielmehr hoffte ich über Jahre hinweg, sie würde sich keine machen. Ein altes venezianisches Sprichwort besagt, dass eine Frau drei Eigenschaften besitzen muss: Sie soll schön, still und stets daheim sein. Meine hatte zwei davon - und die reichten mir. Auf die Idee, sie zum Schweigen zu bringen, wäre ich nie gekommen. Ihr unaufhörliches Geplapper war das allgegenwärtige Hintergrundgeräusch meines Daseins - und wie eine schöne Melodie wurde es mit der Zeit zu einer vertrauten Gewohnheit. Faustina schien mir für die Erledigung der praktischen Dinge des Lebens, für die ich mich völlig unfähig hielt, sehr geeignet zu sein. Es kam mir nicht in den Sinn, mich mit ihr über Maltechniken, die Geheimnisse der Farben oder über Leidenschaft und Euphorie, die
mit jedem Schaffensprozess einhergehen, zu unterhalten. Ebenso wenig über die Unsterblichkeit der Seele. Wir sprachen einzig und allein über die Liebe und die verschiedenen Arten, sich zu lieben, sowie über die Folgen - Verzögerungen, dicke Bäuche und volle Windeln, erste Zähnchen und die Enthaltsamkeit um den Geburtstermin. Ich weiß nicht, ob sie mir dafür dankbar sein oder mir es nie verzeihen wird.
    Während ich mir mit größter Sorgfalt am Bart herumschnitt, machte Faustina ein immer sorgenvolleres Gesicht.«Wo meint dieser kahl geschorene Tölpel noch hingehen zu müssen?», zog sie mich auf.«Bleich wie ein Mehlkloß ist er. Er täte gut daran, im Bett liegen zu bleiben, schon der kleinste Schauer wird ihn umhauen.»
    Die tollkühnen Freunde aus meiner Jugend - die mich ob meiner Fehler, Laster und Ticks zu ärgern wussten - sind bereits alle tot. Francesco der Schriftsetzer, Andrea der Schauspieler und Domenico der Musiker. Und Freundschaften werden nicht einfach wiedergeboren - wie Bäume brauchen sie Zeit, um Wurzeln zu schlagen. Aus diesem Grund haben alte Menschen keine Freunde. Meine Frau ist das letzte Wesen auf Erden, das sich noch über mich lustig machen kann. Das Schöne an einer langen, glücklichen Ehe wie der unseren ist diese schlichte, anspruchslose Vertrautheit. Unvorstellbar der Gedanke, ohne sie gelebt haben zu müssen. Manchmal frage ich mich, was aus meiner Faustina werden wird. Sie ist

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