Tintorettos Engel
noch keine fünfzig Jahre alt. Gewiss wird sie mir eine treue Witwe sein. Das sage ich mir immer wieder.
Sie schwatzte unaufhörlich auf mich ein, dass ich endlich Ruhe geben solle, wie ein blasser Tropfen Quecksilber aussehe, hin und her taumeln werde und warum ich nicht wie alle anderen alten Männer still sitzen bleiben könne? Ihre Worte klangen bitter. Meine Frau war einst eine wahre Schönheit gewesen, und so munter und spritzig wie der Weißwein von unseren Bergen. Nun war sie es nicht mehr, konnte ich ihr da ihre Verbitterung vorwerfen?
Ich ließ ihr Gejammer über mich ergehen. Gern hätte ich mich meinen Nonnen im festlichsten Ornat präsentiert, so glanzvoll wie eine frisch gestanzte Goldmünze. Sie bekommen mich so selten zu sehen, dass es für sie jedes Mal ein unvergessliches Ereignis ist. Noch Tage später besprechen sie unsere Begegnung bis ins kleinste Detail: Von welchem Tier wohl mein Pelz stammte - Fuchs, Luchs oder Marder? Ob ich mir den Adelstalar, den ich hin und wieder anlegte, obgleich ich ihn nicht von Geburt wegen tragen durfte, durch anderweitigen Verdienst erworben hätte? Hatte ich meinen silberfarbenen Bart gestutzt oder ließ ich ihn mir wie den eines Propheten wachsen? Das interessiert sie mehr als mich ein Treffen mit dem Dogen. Doch meine festlichen Kleider befanden sich alle im oberen Stock. Da wollte ich nicht wieder hinauf. Ich konnte mich nicht überwinden, Mariettas Schrank noch einmal zu öffnen und dort das rote Kleid und das blonde Haar zwischen den Goldfäden zu sehen und ihren Geruch einzuatmen - der inzwischen sicher so schwach geworden war, dass er bald für immer verschwunden sein würde. Daher griff ich zur erstbesten, mit Ölfarben beklecksten Hose und nahm das Hemd mit dem abgewetzten Kragen vom Stuhl. Dann setzte ich einen Strohhut auf und trat aus dem Haus.
Meine Gemahlin warf sich die seidene Zimarre über, welche die Barone des Herrschaftsgeschlechts der Ficenga einst Marietta geschenkt hatten und die auf dem Rücken mit einem verschlungenen Wald voll greller, exotischer Vögel bestickt war. Dann schnappte sie sich Handschuhe und den Federfächer mit Elfenbeingriff und lief völlig entrüstet hinter mir her.«So kannst du doch nicht das Haus verlassen!», rief sie.«Warte!»Ich hörte nicht hin. Die Flut bespülte noch immer die Fondamenta, hatte den Platz überschwemmt, schwappte gegen die hölzernen Schotten, die die Ladenbesitzer eilends vor ihre Eingänge gestellt hatten, und langte mit ihren trüben Tentakeln durch die Gassen bis an mein Haus heran.«Mit deinem Fieber darfst du nicht in die nasse
Kälte hinaus, du Sturkopf!», rief Faustina erneut hinter mir her, während sie auf dem Matsch beinah ausrutschte.«Was keifst du so, Weib? Erzähl keine Märchen, noch kann ich mit meiner Angel jeden Fisch fangen», erwiderte ich knurrend, ohne mich umzudrehen. Jüngere Menschen behandeln alte meist wie Kinder. Sie wissen nicht, wie ungeheuer stark die Alten sind, viel stärker als sie. Denn sie haben alles überlebt.«Komm wieder rein, Jacomo, so warte doch! Das Wasser geht auch wieder. Es dauert nicht mehr lang. Hab doch wenigstens dies eine Mal etwas Geduld.»Ohne auf sie Rücksicht zu nehmen, ging ich weiter und watete mit meinen aufgequollenen Schuhen durch den glitschigen Schlamm. Ich wollte nur noch weiter. Mir war, als hätte ich mit den Nonnen von Sankt Anna eine Verabredung, die ich auf keinen Fall versäumen durfte. Als stünde mein persönliches Heil auf dem Spiel.
Ich verhandelte gerade mit einem Bootsverleiher vor der Scuola di San Marco, als der höchste Beamte der Bruderschaft und der Bürgermeister, die anlässlich einer bevorstehenden Versammlung auf die anderen Ratsmitglieder warteten, an mich herantraten. Taktvoll erkundigten sie sich nach meinem Wohlergehen: Es habe sich bereits herumgesprochen, dass ich, nachdem lange Jahre kein Bild aus meiner Hand mein Atelier verlassen habe, die Grablegung für die Benediktiner von San Giorgio Maggiore fertiggestellt hätte. Daher könne ich doch endlich an den Altarflügel denken, den ich der Bruderschaft neun Jahre zuvor versprochen hätte? Ob sie wieder Hoffnung hegen könnten?«Hoffen kostet nichts», sagte ich,«bringt aber wenig ein.»Kaum waren wir wieder allein, ging Faustina wie ein Pulverfass in die Luft.«Schau dich nur an», beschimpfte sie mich mit so lauter Stimme, dass die Passanten sich zu uns umdrehten,«du widerlicher, alter Dreckslappen! Siehst aus wie ein Köter, der im Müll
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