Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
Vom Netzwerk:
Wie ein Mörder schleifte ich Blutspuren auf dem Boden hinter mir her.«Wo gehst du hin, Jacomo?», fragte sie ängstlich.«Das geht dich nichts an. Lauf mir bloß nicht hinterher. Wenn du dieses Bett verlässt, Marietta, bist du nicht mehr meine Tochter.»Ich packte mir eine Decke und trat, nackt wie ich war, in den dunklen Flur hinaus. In frostiger Kälte und unter einem pulsierenden Sternenhimmel warf ich mich in einen Brennnesselstrauch.

     
    Während des gesamten Rückwegs im hin und her holpernden Wagen verkroch ich mich zum Schutz vor dem Regen unter die Wachsdecke und tat so, als schliefe ich. Sobald ich ein Bein ausstreckte oder nur mit dem Augenlid zuckte, fragte Marietta, was mit mir los sei, warum ich so schlechte Laune hätte. Ob ich traurig sei, weil Hans und Pieter uns verlassen würden und nie wieder besuchen kämen. Oder ob sie mich in irgendeiner Weise gekränkt habe. Sie habe es nicht mit Absicht getan, sei in der Nacht fast erfroren, und mit Faustina würde sie im Winter auch immer so schlafen, sie würden Brust an Brust eng umschlungen zusammen unter der Decke liegen, um nicht unnötig Kaminholz zu verbrauchen. Das wusste ich, und ich fand auch nichts Kränkendes daran - im Gegenteil, ich wollte ja, dass die beiden ein Bett teilten, um nur ein Zimmer heizen zu müssen.«Sei still», entgegnete ich und zog mir die Decke übers Gesicht,«mir dröhnt der Kopf.»Ich kehrte ihr den Rücken zu und starrte auf den Weg - grau und voller Pfützen. Einzig die Leere des Himmels spiegelte sich in ihnen wider.
    Marietta erzählte leise, sie habe in der riesigen Villa Angst gehabt, mit all den unbekannten Männern in den Baracken und den Räubern im Wald. Sie habe sich vor diesen Männern gefürchtet, doch vor allem davor, mich nie mehr wiederzusehen. Von mir verlassen worden zu sein. Angst, dass ich sie in diese Villa mitten im Wald hinaufgebracht hätte, um sie loszuwerden. Nicht einen Moment lang habe sie geschlafen, und die Angst sei immer schlimmer geworden, denn ohne mich könne sie nicht leben. Jacomo, mein allerliebster Vater, habe sie mich immer wieder beschworen, komm bitte zurück. Aber ich sei nicht zurückgekommen, obwohl die Nacht so endlos lang und stockfinster gewesen sei, ich sei einfach nicht wiedergekommen. Da sei ihr klar geworden, dass ich sie genau so, wie ich sie in jener Nacht verlassen hätte, zukünftig immer wieder verlassen könne, jederzeit, und dass sie nie wieder mit demselben glückseligen und unbeschwerten Gefühl, das ich ihr in dieser Nacht genommen hätte, einschlafen würde.
«Sei still», sagte ich nur immer wieder, bis uns das Boot vor der Haustür absetzte.
    Dominico eilte mir entgegen, um mir mitzuteilen, dass ihm der Storch über Nacht ein Brüderchen ins Nest gelegt habe, das im Andenken an den armen verstorbenen Großvater Giovanni Battista hieß. Er habe rote Haare und ein rotes Gesicht und sauge gierig wie eine Ziege. Marietta war endlich eingeschlafen, kauerte mit angezogenen Knien am Schiffsrumpf. Selbst im Schlaf und in völliger Erschöpfung lag ein Ausdruck von Trostlosigkeit auf ihrem bleichen Gesicht. Als fragte sie sich noch immer, warum ich sie verlassen habe. Die unschuldige Marietta. Ich aber war nicht mehr unschuldig. In der Villa der Morosini war unser Sommer zu Ende gegangen. Ich versuchte noch, in ihrem Gesicht, sogar in ihrem Schlaf irgendetwas von mir zu finden. Doch sie ähnelte nur noch sich selbst.
    «Menegheto!», rief ich und streichelte sein schwarzes Köpfchen.«Groß bist du geworden.»Stolz und mit weit aufgerissenen Augen schaute mich mein Sohn Dominico an. Er war sieben Jahre alt. Nie hatte ich ihm besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Er war so zurückhaltend und wohlerzogen, dass ich bisweilen vergaß, dass es ihn überhaupt gab.«Heute ist ein wichtiger Tag für dich», sagte ich und ließ mich von ihm ins Haus führen.«Ab morgen darfst du in meine Werkstatt. Du wirst Marietta folgen, Schritt für Schritt. Du musst genau hinschauen, was sie macht, darfst sie niemals aus den Augen verlieren.»In Wahrheit bat ich mein unschuldiges Kind, uns nicht einmal eine Sekunde lang allein zu lassen.«Ja, Papa», versprach Dominico freudestrahlend. Er hätte alles für mich getan.

20. Mai 1594
    Vierter Fiebertag
    Wenn ich an meine beiden Nonnen denke, stelle ich sie mir schon seit Jahren als Einwohnerinnen eines fremden Landes vor. Der Weg von meinem Atelier zu den zerfallenen Klostergemäuern wurde allerdings mit der Zeit in meinem Kopf immer

Weitere Kostenlose Bücher