Tintorettos Engel
Jesus oder einem anderen Christen zu vermählen. Die Nonnen wollten sie nicht mehr bei sich behalten. Ich müsse mich um ihre Zukunft kümmern. Im Alter von Ottavia habe sie bereits drei Kinder gehabt. Wie es komme, dass ich Zeit für Portraits von altersschwachen Lackaffen hätte, die ich nicht einmal kannte, aber nicht eine Minute an die Zukunft meines eigenen Blutes verschwendete? Kein Band dürfe stärker sein als die Blutsbande. Warum ich so viel Geld für das Bild vom toten Christus ausgegeben hätte, das in der dunklen Kirche von San Giorgio vor sich hin schimmeln werde, und es nicht als Aussteuer für meine Töchter beiseitegelegt hätte? Edelmänner nähmen keine Mädchen ohne Aussteuer - selbst ich, der sich für so außergewöhnlich halte, hätte das nicht getan. Die Tochter eines angesehenen Stadtbürgers, eines Staatsdieners hätte ich mir genommen, nicht etwa die eines Schweineschlachters. Oder eine deutsche Bagasse. Arme Ottavia, arme Laura - ihr selbstsüchtiger Vater kränke die Lebenden und ehre die Toten. Denn die Toten fielen ihm nicht zur Last, seien artig und still, sagten zu allem Ja und Amen. Schäm dich, Jacomo. Schäm dich.
In jenem Augenblick schämte ich mich tatsächlich, Herr. Ich schämte mich wegen des Korbs mit den Süßigkeiten vom Vortag und den reifen Kirschen, den ich meinen Nonnen zukommen ließ, wegen dem, was ich darin versteckt hatte, wegen des hässlichen, irren Blicks meiner Ehefrau und weil ich wusste, dass jedes einzelne Wort wahr war. Wahr die Stellung ihres Vaters, wahr ihre Aussteuer - ohne die wir nie in der Lage gewesen wären, eine Familie zu gründen. Ich fragte mich, ob ihre Vorwürfe berechtigt waren. Ob ich sie tatsächlich aus diesen Gründen genommen hatte.
So standen wir vor dem Laden, zusammen mit dem Wurstmacher, der nicht aufhörte zu fluchen, seinem Gesellen, der mit einem Staubwedel versuchte, die Schweinswürste sauber zu wischen,
und dem Fährmann, der das Tau vom Poller losband und schimpfte, dass er, wenn wir weiter seine Zeit so vergeudeten, den doppelten Fahrpreis verlange, und mittendrin wir, die wir uns wie zwei tollwütige Hunde zerfleischten, als mir dieser so bittere Gedanke durch den Kopf schoss. Seit vierunddreißig Jahren bin ich mit dieser Frau verheiratet. Faustina ist ein Teil von mir geworden. Nicht auszudenken, was aus meinem Leben geworden wäre, wenn ich es nicht mit ihr geteilt hätte. Sie hat meinem Alltag eine Struktur gegeben, meiner Arbeit ein konkretes Ziel, meinen Mühen einen Sinn, meinem Namen einen Fortbestand. Sie ist nicht nur meine Frau, sie ist meine wahrhaftige Lebensgefährtin, mein an meiner Seite herangereiftes Kind. Möglicherweise aber hat sie mich nie verstanden. Sie liebt mich, hat mich nie betrogen, hat für mich gelebt - bei den Entbindungen wäre sie beinah jedes Mal gestorben, für mich. Trotzdem hat sie nie verstanden, wer ich bin. Alles, was meinem Leben einen Sinn verliehen hat, alles, wofür ich einzig gelebt habe - bedeutet ihr nichts. Wenn sie könnte, würde sie meine Bilder gegen Pelze eintauschen, meinen Beruf gegen einen Titel und meinen Namen gegen ein Wappen. Alles, was sie über meine Gemälde gesagt hat, lässt mich noch heute vor Scham erröten.«Sie sind so überfüllt von Menschen, Jacomo, davon wird einem schwindelig, man fühlt sich mitten auf den Campo San Polo versetzt, wenn gerade Markt ist. Es fehlt ihnen eine Mitte. Man fühlt sich bedrängt. Warum malst du nicht wie alle anderen etwas Beschauliches?»
Die alte Klosterpförtnerin von Sankt Anna war eine bucklige, hinkende Kreatur und mit ihren tief eingesunkenen Augenhöhlen und klauenartigen Fingern, die einen riesigen Schlüsselbund umklammerten, wahrscheinlich nie eine richtige Frau gewesen. Genauso in die Jahre gekommen erschien mir das weitläufige Parlatorium, in dem ich in abgestanden riechender Luft auf meine beiden Nonnen wartete. Verschlissen waren auch die Kissen
auf den Bänken und die verblassten Bilder an den Wänden - alte Fresken, die man kaum noch erkennen konnte. Veraltert das bemitleidenswerte Holzkreuz mit einem Jesus, der sein Haupt neigte und voll Scham den Blicken der Besucher auszuweichen schien. Ich war wie benebelt. Ich sah nichts anderes als die Risse an den Wänden, den Staub auf dem Boden, die Spinnennetze an der Decke - den Verfall in allen Dingen und in mir. Gemeinsam sind diese Stadt und ich alt geworden.
Wie immer statteten auch heute Freunde und Verwandte den Schwestern Besuche ab. Einige
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