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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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schob ich den Umzug vor mir her. Ich hatte einen Traum, und auf keinen Fall wollte ich eines Tages feststellen müssen, ihn nicht verwirklichen zu können. Das Haus, das mir vorschwebte, hatte ich bereits gefunden. Es lag mir tagtäglich vor der Nase, auf der anderen Seite des Hofes hinter den Lagerräumen und der Seifensiederei. Der Besitzer hätte es sicherlich gern verkauft, drohte es doch zu zerfallen und das Dach einzubrechen, aber eine Reparatur konnte er sich nicht leisten. Für uns wäre es geradezu vollkommen. Doch
sollte ich es nicht schaffen, in das Haus meiner Träume einzuziehen, würde ich bleiben, wo ich war - auch wenn es für uns alle schlimm war. In unserem angemieteten Haus hatte ich zunächst allein und dann mit Marietta gewohnt, später mit Marietta und Faustina, und allmählich war aus uns ein ganzer Stamm geworden - die Räume aber hatten sich deswegen nicht vermehrt. Die Hausangestellten konnten nicht bei uns wohnen und verließen uns bei Sonnenuntergang. Meine Kinder tummelten sich in den Betten, die Jungen mit den Jungen, die Mädchen mit meiner Frau. Die betagte Amme schlief in der Küche, mein Gehilfe im Vorratsraum, die zwei Gesellen, dich ich zum Fertigstellen einer Arbeit den Sommer über angeheuert hatte, auf dem Boden der Werkstatt inmitten giftiger Farbdämpfe. Ich selber war - wie ein Schiffbrüchiger - ins Atelier geflüchtet.
    Doch nicht einmal hinter verschlossener Tür gingen sie mir aus dem Kopf. Ich hatte bereits sechs Kinder: Marietta, die Älteste, war siebzehn Jahre alt; Ottavio, der Jüngste, drei. Von meinen Auftraggebern aber bekam ich kein Geld. Ich selbst hatte mich ihnen vor Jahren unentgeltlich angeboten und ihnen damit die Ausrede geliefert, auf ewig kostenlos für sie zu arbeiten. Der Doge hatte mir einen prestigeträchtigen Auftrag in seinem Palast versprochen: Endlich würde ich mein Talent in den Dienst der Republik Venedig stellen können. Doch wie einem Gefangenen, vor dem der Gefängniswärter mit dem Zellenschlüssel rasselt, hielten mir die Prokuratoren den Vertrag unter die Nase: Bis zur Unterschrift wollten sie es allerdings nicht kommen lassen, sondern mich lediglich dazu antreiben, noch schneller und billiger zu produzieren, und die Hoffnung in mir schüren, eines Tages diesen Vertrag in Händen zu halten. Notgedrungen musste ich die Behörden behelligen und meine Armut wie ein Leprakranker seinen Armstumpf oder ein Kriegsversehrter seine Wunden zur Schau stellen. Ich musste mich ihnen anbiedern und sie sogar auf Knien anflehen. Es ist selbstverständlich, einen Fährmann für das
Steuern des Bootes oder einen Tischler für das Ausbessern eines Tisches zu bezahlen, nicht aber einen Künstler, der anderen den Salon, Palast oder Staat verschönert - und sie am Leben erhält, wenn ihre Knochen bereits zu Staub geworden sind. Nichts ist demütigender, als das einzufordern, was einem zusteht, Herr.
    Um meine Kinder halbwegs anständig großzuziehen, war ich gezwungen, jede Art von Auftrag anzunehmen - den Altarflügel einer Kirche auf einer dalmatinischen Insel irgendwo in der Adria oder das Portrait eines ungehobelten deutschen Holzhändlers, der obendrein noch Lutheraner war. Ich musste mich für Arbeiten hergeben, die ich nicht verdiente und mir nicht zur Ehre gereichten. Wie ein Galeerensträfling schuftete ich achtzehn Stunden am Tag. Dennoch bedeutete jeder Tag eine verlorene Schlacht. Der Krieg, der die Finanzen des Staates stetig ausblutete, hatte die Preise in die Höhe getrieben, wodurch uns der Verkauf eines Portraits nicht einmal einen Monat lang über Wasser hielt. Die Hungersnot auf dem Land verwandelte jedes Salatblatt und jedes Stück Obst in Gold. Mittag- und Abendessen zu einer Mahlzeit zusammenzulegen war für meine Sippe eine Herausforderung, die meine geballte Kraft erforderte.
    Und der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Der eine Sohn brauchte einen Barbier, der ihm einen faulen Zahn zog, und anschließend schmerzlindernde Medikamente, der andere ein Paar neue Schuhe, weil die alten - bereits vom größeren Bruder getragen - auseinanderfielen. Gerolima brauchte ein festliches Kleid für die Erstkommunion, Dominico hatte seine Schwäche für die Literatur entdeckt, daher musste der Privatlehrer bezahlt werden, Marco übte sich in der Turnhalle als Fechter, und Giovanni wünschte sich ein Cembalo, da ihm sein Großvater, Episcopi, in den Kopf gesetzt hatte, Laute zu spielen sei Weiberkram. Und dann gab es noch den Orgellehrer, der Marietta

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