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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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genehmigten sich die von zu Hause mitgebrachten Köstlichkeiten, und zwischen Kuchen und Weinkrügen kam sogar eine beinahe zügellose Atmosphäre auf. Aber nur Scheinheilige nehmen daran Anstoß. Nonnen sind Frauen wie alle anderen, nicht besser oder schlechter als jene, die ihr Leben nicht dir gewidmet haben, Herr. Die einen sind gläubig, die anderen zweifeln, die einen lassen sich von der Faszination und dem Hunger nach Macht einwickeln, die anderen üben Barmherzigkeit und entledigen sich aller irdischer Bedürfnisse, andere wiederum sind in höchstem Maße eifersüchtig auf den Rang ihrer Mitschwestern. Manche Nonnen suchen sich sogar einen Liebhaber oder bieten sich feil. Die Benediktinerinnen von Sankt Anna sind jedoch die tugendhaftesten von ganz Venedig. Andernfalls hätte ich meine Töchter niemals hierhergeschickt. Ich wollte die absolute Reinheit für sie.
    «Vater!», hörte ich jemanden rufen, und aus dem Dunkel tauchten meine Nonnen auf. Ein vergoldetes und wie mit Spitze durchwirktes Eisengitter trennte uns voneinander. Ich hatte Mühe, ihre Gesichter zu erkennen und auseinanderzuhalten. Sie tragen die gleiche schwarze Tracht, ihre Bewegungen sind nahezu identisch, selbst ihre Stimmen haben sich einander angeglichen. Ihre Haut ist so fahl wie die Wände - und der Staub. Zugegebenermaßen habe ich sie nur erkannt, weil die Ältere den schwarzen Schleier und die Jüngere den weißen Novizenschleier trug. Somit ist die
etwas Pummeligere Schwester Perina und die andere, nur noch Haut und Knochen, Lucrezia. Ihr konnte ich noch nie in die Augen sehen, ohne gleichzeitig daran zu denken, dass Probleme mitunter wie ein Platzregen über einen hereinbrechen und nur tröpfchenweise wieder verschwinden. Und dass alles mit ihrer Geburt begann - dafür bitte ich dich um Vergebung, Herr.
     
    Es war Venedigs und auch mein schwierigster Sommer. An jenem drückend heißen Augusttag schleppte ich mich zum Kassenwart im Büro der Prokuratoren: Ich wollte meinen Lohn für die neun Philosophen einholen, die ich für die Bibliothek Marciana angefertigt und längst abgeliefert hatte. Bei einer Ausschreibung etliche Jahre zuvor hatte ich gehofft, einen Auftrag zu erhalten, doch der, der über die Vergabe bestimmte - der großartige Tizian -, hatte seine Geringschätzung mir gegenüber öffentlich kundgetan und mich ausgeschlossen. Sieben Maler hatte er ernannt: darunter Meister, die in Venedig etwas zählten, und ein paar völlig unbekannte. Ich gehörte nicht dazu. Es war ein Schlag ins Gesicht. Niemand wollte etwas von einem, den Tizian für unfähig hielt. Als mir die Prokuratoren als Entschädigung für diese Schmach über zehn Jahre später die Arbeit der neun Philosophen anboten, hätte ich gern abgelehnt. Ich konnte es mir aber nicht erlauben. Doch in jenem August hatte die Republik anderes im Sinn als meine Bezahlung: Wir befanden uns erneut im Krieg.
    Mein Leben war ein einziger mit dem Krieg vermählter Krieg. Als ich geboren wurde, herrschte Krieg, in meiner Kindheit und Jugend herrschte Krieg, und als ich zu arbeiten begann ebenfalls.
    In jenem Sommer nun befanden wir uns im Krieg gegen das Osmanische Reich, mit dem wir durch wichtige wirtschaftliche Handelsbeziehungen verbunden waren, die das Überleben der Republik sicherstellten: Getreide, Salzfische und Felle kamen von dort - doch vor allem Pfeffer und Gewürze, Baumwolle und die Seide, die unsere Manufakturen später in die ganze Welt verschickten.
Dieser Krieg war daher ein wahrhafter Selbstmord, gegen den sich unsere Senatoren zur Wehr gesetzt hatten und den sogar der Doge Alvise Mocenigo zu verhindern suchte, indem er sich bis zur letzten Minute für Frieden einsetzte. Dennoch zogen notgedrungen auch wir in den Krieg, als der Papst seine Heilige Liga und sämtliche anhängigen christlichen Mächte aufbot. An Vorwänden mangelte es nicht, denn auf der Handelsebene achteten die Osmanen den Frieden längst nicht mehr. Sie trieben in der Adria unerbittlich ihr Unwesen, hatten erst kürzlich Zypern eingenommen, dessen Militärstützpunkte erobert und die wehrlose Bevölkerung grausam massakriert. Daher glaubten viele, auch uns stünde eine Invasion unmittelbar bevor. Bewaffnete Bürger patrouillierten durch die Stadt. Und auch ich wetzte jeden Tag meinen Dolch.
    Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Bislang waren die großen Ereignisse meiner Epoche spurlos an mir vorübergezogen. Während der italienischen

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