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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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Kriege in meiner Kindheit fielen ausgehungerte Bauern, Waisenkinder und zerlumpte Frauen, denen das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand, auf der Suche nach Zuflucht scharenweise über Venedig her. Durch die Aushänge an der Rialtobrücke erfuhr ich später von Massakern, die weit entfernt von Venedig im Namen Gottes stattgefunden hatten. Ich diskutierte zwar mit Episcopi und anderen Freunden über diese Gräueltaten, sie berührten mich jedoch nur, wenn sie sich auf meine Arbeit auswirkten - ein General, den ich portraitiert hatte und der in einer Schlacht gefallen war, ein befreundeter Senator, der mit dem Heer in den Orient aufbrach, oder ein Mäzen, der auf einmal unter den Verdacht des Verrats geriet und aus der höheren Gesellschaft ausgeschlossen wurde. Ansonsten aber machte ich mir dazu keine großen Gedanken. In jenem Sommer berührte der Krieg allerdings auch mich. Wenn die Republik vernichtet worden wäre, wenn wir Unabhängigkeit und Freiheit verloren hätten, was wäre
dann aus uns geworden? Welchen Sinn hätte es noch gehabt, in einer zerrütteten Welt zu malen?
    Als ich in der Abenddämmerung niedergeschlagen nach Hause zurückkehrte, begleitet vom Glockengeläut sämtlicher Kirchen Venedigs, die das Ave Maria anstimmten, mit dem sie die Arbeiter von ihrem Tagewerk erlösten und mich an einen weiteren Tag ohne einen Groschen Verdienst erinnerten, lief mir Schila auf der Brücke entgegen und teilte mir feierlich mit:«Maestro, es ist ein Mädchen.»Mein erster Gedanke war: noch eins . Ja, genau das, Herr, habe ich gedacht.
    Kaum hatte ich die Tür geöffnet, schlug mir ein ohrenbetäubender Lärm entgegen. Meine Kinder liefen kreischend durch alle Zimmer. Dominico schlug erbarmungslos mit dem Teppichklopfer auf seine kleine, pausbäckige Schwester Gerolima ein, die ihm das Frontispiz seines Petrarcas aus der Hand gerissen hatte; Marco vergnügte sich mit einer Maus, die er, sobald das vor Schreck wahnsinnig gewordene Tier wieder zurückpurzelte, immerzu wie einen Ball gegen die Wand schleuderte; Giovanni übte sich mit stoischer Geduld darin, mit einem Stäbchen einer Reihe leerer Korbflaschen eine Melodie zu entlocken; Ottavio kaute auf einem Stück blauem Papier herum, auf dem ich meine Skizze der Heiligen Drei Könige wiedererkannte. Als Marietta es ihm hastig aus dem Mund zog, hatte der Speichel die Kreide- und Kohlestriche bereits verwischt und unwiederbringlich zerstört.
    Ich bahnte mir meinen Weg zum Wochenbett meiner Frau. Bald war Zeit fürs Abendbrot, in Kürze würden all diese Kinder Hunger bekommen. Mit einer Brotkruste und einer Tasse Suppe würden sie sich jedoch nicht zufriedengeben. Ich dagegen brauchte nichts - ich malte lieber mit leerem Magen, Leichtigkeit und Benommenheit brachten mich voran, inspirierten mich geradezu, dass ich mich zuweilen erst nach zwei Tagen Zurückgezogenheit im Atelier wieder ans Essen erinnerte. Die Kinder jedoch nicht. Sie wollten morgens zur neunten Stunde essen
und wenn die Mitternachtsglocken des Campanile läuteten, sie wollten bestimmte Zeiten und Regeln, die ich nicht brauchte, die mich geradezu hemmten. Und nachts, wenn ich schlafen wollte, weinten sie und hinderten mich daran, mich auszuruhen, obwohl ich es dringend nötig hatte.
    «Papa, Papa, Papa», kreischten die Kinder und klammerten sich an mein Bein,«zeig uns das Kindchen.»Auch diese Nacht würden sie weinen, schreien und die Matratzen nass machen, während ich in meiner Werkstatt arbeiten und mich darauf konzentrieren musste, wie ich zum wiederholten Mal eine Jungfrau mit Heiligenschein darstellen konnte, ohne mich zu wiederholen - ohne zu banal oder zu erfinderisch zu wirken, ohne weder meine Auftraggeber noch mich selbst zu enttäuschen. Ich war für diese Geschöpfe verantwortlich. War ihr Tyrann und ihr Sklave.«Wo warst du?», stöhnte Faustina, bleich wie ein Leichentuch.«Schon vor Stunden habe ich nach dir geschickt.»«In der Basilika, sie haben mir einen Karton für das Mosaik in der Kuppel angeboten, da hab ich mir die Sache vor Ort angeschaut», erwiderte ich.«Ich wäre beinahe gestorben», warf sie mir vor und fiel auf ihr Kissen zurück.«Selbst ein winziges Mosaiksteinchen ist dir wichtiger als deine Frau.»Marietta zog mich am Hemdsärmel zur Wiege, wo sie mir das Neugeborene in die Arme legte.
    Es war der vierzehnte August. Über Venedig lag eine brütende Hitze, die uns, so zahlreich in dem viel zu engen Haus eingezwängt, die Luft zum Atmen nahm. Bereits seit Jahren

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