Tintorettos Engel
in Erinnerung, und nun sehe ich einen zum Galgen Verurteilten vor mir. Wer war in der Lage, Euch das anzutun?»
«Es könnte sein, dass in dem Buch die Bezeichnung für deinen Stern steht, Lucrezia», erwiderte ich. Mit meiner Tochter Lucrezia habe ich mich nie gut unterhalten können. Du aber, Herr, wirst darüber urteilen, ob ich jemals mit den anderen zu reden vermochte. All das, was meine Nonne hinter diesen Mauern gelernt hat, wird sie mir nicht mehr beibringen - auch ich habe ihr nichts beigebracht. Wir haben uns verfehlt. Und jetzt ist es zu spät.
Schon läutete wieder die Glocke, die sie an ihre Aufgaben erinnerte, und eine mürrische alte Klosterschwester - die den Gesprächen der Novizinnen lauschte - gemahnte diejenigen zur Eile, die zum Abschied noch ein wenig am Gitter verweilten.«Und Ottavia und Laura?», fragte Faustina empört.«Was werden die Mädchen denken, wenn sie erfahren, dass du in Sankt Anna warst
und sie nicht hast rufen lassen? Hast dich nicht mal erkundigt, wie es ihnen geht!»
«Wie soll es ihnen schon gehen», entgegnete ich,«sie sind jung, gesund, sie werden bei ihren Mitschwestern hocken und keine Lust haben, ihren alten Vater zu begrüßen.»Meine beiden Nonnen bat ich, für mich zu beten, häufig, am besten täglich. Ich würde ihre Fürsprache brauchen, um ins Paradies zu kommen.«Oh, Papa», wandte sich Perina schüchtern lächelnd an mich,«Ihr kommt ins Paradies, wann immer Ihr wollt, es gehört schließlich Ihnen, Ihr habt es gemalt.»Ich dachte, sie würde noch immer scherzen.«Nein», berichtigte ich sie,«Dominico hat es gemalt, ich hätte es nicht gekonnt. Nachdem ich das Paradies kennengelernt habe, ist es mir wieder verloren gegangen, und nun besitze ich nicht einmal mehr eine Vorstellung davon.»Als hätte ich einen Fluch ausgestoßen, klopfte mir Faustina verärgert mit dem Fächer auf die Finger. Meine Nonnen hinter dem Eisengitter waren aufgestanden - eine dunkle Masse vor grauen Wänden. Zwei Tintenflecke. Identisch. Und doch so verschieden - hätte ich doch nur die Zeit gehabt, sie kennenzulernen.
«Kommt bald wieder, liebster Vater», flehte mich Perina an.«Ihr allein besitzt die Kraft, ein Jahrhundert in eine Minute und eine Minute in ein ganzes Jahrhundert zu verwandeln.»«Ehrwürdige Schwestern», erwiderte ich - und es war kein Scherz, obgleich sie es nicht verstanden -,«euer alter Vater vertraut euch etwas anderes an.»Ich zeigte meinen Töchtern meine offenen Handflächen. Der vom Licht zum Leben erweckte Staub tanzte auf dem schräg einfallenden Sonnenstrahl. Ratlos starrten mich die beiden an. Meine Seele. Sie ist ein Staubkörnchen - wahrhaftig nicht viel.
21. Mai 1594
Fünfter Fiebertag
Dann brach ich zusammen. Knirschend, quietschend und kreischend geriet das große Rad ins Taumeln - bis es mich gepackt und ins Zentrum seines Strudels gesogen hatte, um mich am Grund wieder auszuspucken. Da lag ich nun vor der Ausgangstür des Parlatoriums, umringt von Besuchern, neben mir der Klosterbeamte, der die Schaulustigen und die jungen Nonnen zurückhielt, die sich um die - endlich einmal offen stehende - Klausurpforte drängten, um das Schauspiel ja nicht zu verpassen. Allesamt außer sich, dass etwas passiert war - sie werden den ganzen Tag lang Gesprächsstoff haben.
«Es ist alles wieder gut, Faustina», wiederholte ich unentwegt, während das Boot in der Strömung schwankte.«Weder die Knochen noch das Gehirn haben Schaden genommen. Die einen sind nur ein wenig geprellt, das andere wird der Schlaf heute Nacht wieder zurechtrücken.»«Gewiss, mein Jacomo», stimmte mir meine Gemahlin zu: Überzeugt hatte ich sie allerdings nicht. Pausenlos wehte sie mir mit dem Fächer Luft zu und streichelte mir hin und wieder sanft mit den Federn über die Wangen. Von Dominico gestützt, schaffte ich die Stufen bis nach oben in mein Bett. Gern wäre ich noch in mein Atelier gegangen. Mich quälte der Gedanke an all das, was ich noch nicht vollendet hatte. Mir war bewusst geworden - endgültig und ohne Aussicht auf Hoffnung -, dass ich alles Angefangene nicht mehr würde beenden können. Niemandem von uns ist das gegeben. Wir sind die grobe Skizze eines zerstreuten Malers. Vollendet hast du uns nicht, Herr.
Eine Lösung, die letzten Geschichten auf neue Art zu erzählen,
werde ich nicht mehr finden. Meine späten Eingebungen werde ich nicht ausarbeiten können. Nicht einmal mit mir selbst werde ich zum Schluss kommen. Ich werde mich unvollendet lassen und auf
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