Tintorettos Engel
Eindruck hinterlassen, als hätte ich sie gelesen. Auf Cornelias Kamin stand immer eine jungfräuliche Ausgabe von Ariost. Eines Tages machte ich mir bewusst, dass Menschen - auch die mächtigsten und hochmütigsten - gelehrte Personen am höchsten achten. Und besser bezahlen. Daher legte ich mir eine recht ansehnliche Bibliothek zu. In meinem Atelier standen Gedichtsammlungen, eine mehrbändige Naturgeschichte, Epen über die italienischen Feldzüge, die Grundlagen der Moral, die Bekehrung des indischen Königssohns Josaphat durch den Eremiten Barlaam, die Kurtisanengespräche, Barbaros Predigt der Träume, Der Götter Verwandlungen … Allesamt schöne, zum Teil illustrierte Bücher von großem Format. Im Laufe der Zeit sind sie jedoch alle verloren gegangen. Heute brauche ich für meine Bibliothek nur noch ein Regalbrett. Auf dem stehen die Bibel, die Psalmen, geistliche Andachtsübungen und das Johannesevangelium.
Die Bücher, die sich meine Tochter gewünscht hat, kenne ich nicht. Aber da sie nicht von dir handelten, Herr, habe ich sie ihr untersagt.«Was für ein Irrsinn, Jacomo!», empörte sich Faustina und lugte durch das Geländer, um einen Blick auf den Buchdeckel zu erhaschen. Lucrezia aber hielt das Buch fest zwischen ihren Händen, sodass nur Frankfurt zu lesen war - eine deutsche Stadt. Ich weiß, was Faustina durch den Kopf ging, nämlich dass man in der heutigen Zeit für so manches Schmuggelgeschäft mit Buchhändlern
nachts von den Schergen der Inquisition mit einem Stein um den Hals im Kanal enden konnte.
«Was fällt dir ein, ihr ein Buch mitzubringen?», warf sie mir vor.«Der barmherzige Arzt tötet den Kranken. Lucrezia hat sich bereits die Augen ruiniert, siehst du nicht, wie rot und geschwollen sie sind? Vom Lesen wird sie höchstens blind wie eine Fledermaus, mehr nicht. Anstatt ihr ein Buch mitzubringen, hättest du ihr das Versprechen abringen sollen, kein einziges mehr anzufassen. »Lucrezia hörte nicht auf sie. Sie hielt sich den Titel so nah vor die Augen, dass ich tatsächlich dachte, sie sei erblindet.« De immenso et innumerabilibus !», rief sie hocherfreut.«O danke, danke, danke!»
Fassungslos fragte meine Frau, was das sei, worauf Lucrezia ihr ausweichend antwortete, dass es zu schwierig sei, ihr das zu erklären, sie würde es ohnehin nicht verstehen, der Autor sei ein Philosoph, der sich an Lullus und Kopernikus anlehne. Ob ihr diese Namen etwas sagten? Selbstverständlich nicht. Einfach ausgedrückt sei es eine Art astronomische Abhandlung. Während meine Nonne munter weiterplapperte, wurde mir klar, dass der Autor der ehemalige dominikanische Ordensbruder war, der neun Monate im Gefängnis der heiligen Uffizien gesessen hatte. Ende letzten Jahres haben sie ihn Rom ausgeliefert. Er hieß Giordano Bruno. Ich schob den Gedanken beiseite. Lucrezia war glücklich.
Von der Intelligenz ihrer Tochter verblüfft, fragte Faustina weiter, wozu sie einen solchen Schinken über Astronomie brauche. Lucrezia antwortete ihr, dass ihr das Studium des Kosmos und der Beschaffenheit der Himmelskörper dabei helfe, ihre Bedeutungslosigkeit zu akzeptieren und am Leben zu bleiben. Was sie damit sagen wollte, ist mir schleierhaft. Ich will es aber auch gar nicht wissen.
Von einem Sonnenstrahl getroffen, blitzte im Korb auf dem Schoß meiner Tochter auf einmal Mariettas Brille auf.«Vielleicht
wird sie», erklärte ich ihr,«die Augenentzündung heilen, und du wirst besser sehen können.»Überrascht setzte sich Lucrezia die Brille auf die Nase.«Oh, ich kann damit einwandfrei in die Ferne sehen! Und allein die will ich erkennen können», rief sie. Meine Tochter ist erst dreiundzwanzig Jahre alt. Sie weiß nicht, dass es eine Jugendkrankheit ist, nicht weit sehen zu können. Für alte Menschen liegt das Unsichtbare dagegen ganz nah. Die Gläser hatten ihre grüne Beschichtung verloren und waren fast transparent geworden. Die am oberen Winkel des Gestells eingefassten Diamanten waren noch vorhanden. Kein anderer in Venedig besitzt eine solche Brille. Lucrezia weiß nichts über diese Brille. Sie weiß auch nichts von ihr - und von mir.
«Lasst mich Euch anschauen!», forderte sie mich auf und rückte näher heran. Ich drückte mein Gesicht an das Eisengitter. Die Pupillen hinter Lucrezias Brillengläsern hefteten sich auf mich.«Seid Ihr noch mein Vater? Euch muss etwas Grauenhaftes passiert sein», rief sie mit sonderbarem ironischem Unterton,«ich habe Euch als einen unbezwingbaren Helden
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