Tintorettos Engel
das Gute, das sie uns entgegenbringt, ist nie vergolten worden. Wenn einer von uns ins Paradies kommt, dann Perina.
Es wurde allmählich spät: Die Äbtissin stand bereits im Türrahmen. Einige Besucher verabschiedeten sich mit dem Versprechen, bald wiederzukommen. Da diese kurzen Begegnungen sowohl bei den Besuchern als auch bei den Nonnen hinter dem Gitter Unbehagen auslösten, hatten alle Schwierigkeiten, die richtigen Worte zu finden. Meine Nonnen rührten sich nicht vom Fleck, sondern warteten auf die nächste - heitere - Anekdote. Keine Todesfälle, Leid oder Krankheiten. Ich forderte sie auf, einen Blick in den Korb zu werfen. Er war randvoll mit dunkelroten Kirschen aus unserem Garten. Das war allerdings nicht alles. Als Perina das Handtuch hochnahm, wich ihr die Farbe aus dem Gesicht. Tränen stiegen ihr in die Augen und kullerten über ihre Wangen.
Etliche Male hatten mir meine Töchter versichert, dass es nicht schwierig sei, das, was sie haben wollten, ins Kloster einzuführen - oder vielmehr einzuschmuggeln. Man musste es lediglich in einem Korb verstecken und der diensthabenden Schwester ein wenig Kleingeld zustecken. Auf eine Wurst oder ein höheres Amt, auf einen Handspiegel mit Silbergriff oder einen Geliebten sind Klosterschwestern durchaus eifersüchtig - und fähig, beim Patriarchen deswegen vorzusprechen. Auf Bilder oder Bücher dagegen nicht. Und meine Nonnen wollten gar nichts anderes. Nie hatte ich etwas hineingeschmuggelt. Jungfräulichkeit, Gehorsam, Armut, die gewissenhafte Achtung der Regel des heiligen Benedikt. Die Töchter von Tintoretto sollten der Welt mit gutem Beispiel vorangehen.
An jenem Morgen aber fand Perina zwischen den Kirschen einen mit Skizzen gefüllten Zeichenblock. Da sich bereits drei Generationen auf den Seiten ausgetobt hatten, sah er völlig abgegriffen
und verbraucht aus. Den zahlreichen Flecken von Tinte, Kohle, Öl, Pasten und Lacken fügte sie ihre Tränen hinzu. Als handelte es sich um eine Heiligenreliquie, drückte sie ihn an ihre Brust. Lucrezia hingegen hatte ein Buch gefunden. Ich gab ihr den Zettel zurück, der mit winzig kleinen Buchstaben übersät war und den sie mir das letzte Mal mitgegeben hatte. Sie zerkaute ihn hastig und schluckte ihn hinunter.
«Was war das?», fragte Faustina aufgeregt.«Eine Bücherliste», beschwichtigte Lucrezia ihre Mutter.«Dieses Kloster besitzt keine Bibliothek, es vernachlässigt unsere intellektuellen Fähigkeiten. Meine Klosterschwestern sind entweder frivol, kokett und zu dumm, den Wert eines Buches zu ermessen, oder zu erpicht auf ihren Aufstieg im Kloster, dass sie es nicht riskieren können, ein Buch zu lesen, das nicht vom Vikar des Patriarchen genehmigt ist. Daher habe ich vor einiger Zeit meinen Herrn Vater gebeten, mir ein paar Bücher zu besorgen. Damals kamen sie gerade druckfrisch aus der Presse und waren bei sämtlichen Wissenschaftlern Venedigs im Gespräch. Ich versuche, mich so gut es geht auf dem Laufenden zu halten, aber das Wissen macht schnelle Fortschritte, und meine Unkenntnis ist wahrlich beklagenswert: Alles Neue braucht Monate, bis es die Mauern von Sankt Anna erklommen hat.»
«Aber hätten wir dir nichts von zu Hause mitbringen können?», unterbrach Faustina sie in der Furcht, ich hätte ihr eine nicht unerhebliche Ausgabe vorenthalten.«In eurem Haus», entgegnete Lucrezia,«gibt es Bücher über das Seelenheil und das Sezieren von Leichen, mein Herr Vater weiß jedoch, dass sich mein Verstand wie eine Biene nur von den seltensten Blüten angezogen fühlt.»
Lucrezia hatte recht. Das Einzige, was ich mir zu viele Jahre lang anzueignen suchte, war technisches Wissen, mit dem ich mein Leben und meinen Beruf verbessern konnte. In meinem Atelier gibt es lediglich Handbücher und Bildtafeln aus der Chirurgie, derer sich Barbiere bedienen, das Architekturtraktat von Serlio
und das De humani corporis fabrica von Vesalio - das ich leider nie fähig war zu lesen. Für anderes glaubte ich keine Zeit zu haben. Selbst heute lasse ich mir Gedichte lieber vorlesen. Auch die Bibel habe ich mir immer lieber nur angeschaut. Und wenn ich etwas schreiben wollte, habe ich Wände und Leinen benutzt. Mein Lieblingsbuch ist die Welt um mich herum.
Als ich noch ein ungebildeter junger Mann war, übten Bücher dessen ungeachtet eine starke Faszination auf mich aus. Es fiel mir zwar schwer, sie zu lesen, weswegen ich nur langsam vorankam oder sie nie zu Ende las: Ich wollte aber dennoch bei anderen den
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