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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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mir für die ehrenvolle Aufgabe auserwählt worden zu sein, in der Heerschar von Gottes Dienern unsere Familie zu vertreten.»«Ja, so ist es», stammelte sie,«aber ich diene Gott bereits, nur eben in diesem Haus. Und Sankt Anna ist so unglaublich weit weg. Ich kann nicht ohne euch leben. Du würdest mir das Herz
brechen, ich käme um vor Heimweh.»«Die Neuen beginnen im September», entgegnete ich ungerührt.«Deine Mutter stellt dir bereits alles Nötige zusammen. Erspar mir die Mühe und den Ärger, dich trösten und dein Geweine ertragen zu müssen. Hab Vertrauen in deinen Vater. Ich will nur das Beste für meine Kinder. Könnte ich dich jemals enttäuschen?»
    Während ich sprach, schaute ich sie direkt an. Meine Tochter aber ertrug meinen Blick nicht. Nervös blinzelte sie mit den Augen, die sie sich mit den Ärmeln trocken wischte. Ihr stockte der Atem. Ich nahm die Staffelei und stellte sie zwischen mich und ihr Bangen. Stille. Nur die Fliegen donnerten unentwegt gegen das geschlossene Fenster. Von der hellen Nachmittagssonne angezogen, wollten sie hinaus, wirbelten jedoch immer wieder wie ohnmächtig von der Scheibe zurück.«Ich achte deinen Gehorsam sehr», sagte ich.«Denn du musst wissen, die unentbehrlichste Gabe einer Nonne ist Gehorsamkeit. Du wirst dich im Kloster wohlfühlen, Gerolima. Du wirst mein größter Stolz, meine Geltung, mein Erfolg sein.»Als ich mir den Kittel umband und mich wieder der Arbeit zuwandte, deutete Gerolima eine Verbeugung an und ging. Sie zitterte, Karaffe und Krug stießen klirrend auf dem Tablett aneinander.
    Aus unmittelbarer Nähe sah ich sie das letzte Mal in der Kirche Sankt Anna, als sie ihr Gelübde ablegte. Sie war sechzehn Jahre alt. Auf Knien vor dem Kirchenoberhaupt sah sie aus wie ein weißer Fleck auf der Erde - mit bloßen Füßen und lose auf die Schultern fallendem Haar. Der Monsignore überreichte ihr ein Kreuz und setzte ihr eine Krone auf den Kopf. In einer Prozession zogen die weiß gekleideten Mädchen durch die Kirche - in sich versunken, benommen, bewegt. Gerolima klopfte an die Tür des Klosters. Laut erhoben die Sänger ihre Stimmen. Die Tür öffnete sich.«Wollt Ihr in Frieden eintreten?», fragte die Äbtissin.«Ja, ich will in Frieden eintreten», antwortete sie mit heller Stimme.«Ich bin gekommen, mich dem Herrn darzubringen.»Sie hielt das
Kreuz fest in ihren Händen.«Gerolima saecularis recedat, et soror Perina sponsa Christi ingrediatur», sprach die Äbtissin.
    Bevor sie die Schwelle übertrat, drehte sich meine Tochter noch einmal kurz um. Sie suchte zum Abschied meinen Blick. Wegen des dichten Qualms der Fackeln und des Weihrauchs, der in den Silberschalen verbrannte, konnte ich ihr Gesicht kaum erkennen. Sie schien jedoch zu lächeln, Herr. Ich hatte sie für das wahrhaftige Leben auserwählt, und sie war mir für dieses Privileg dankbar. Dann verschwand sie auf der anderen Seite. Gerolima existierte nicht mehr, und heute kommt es mir sogar vor, als hätte es sie nie gegeben. Als hätte dieses kleine Mädchen nur dafür gelebt, Schwester Perina zu werden.
    Als krönenden Abschluss der Zeremonie schnitt ihr die Äbtissin mit der Schere eine Haarsträhne ab. Später hat ihr eine Nonne die Haare ganz abrasiert. Wie Schnee fiel ihr Haar sanft und leise auf den Fußboden des Klosters. Viele Jahre darauf erzählte mir Perina, dass sie in jener Nacht stundenlang geweint habe, ohne Trost zu finden. Dann fragte sie mich, ob Marietta auch geweint habe, als ich ihr den Kopf rasierte.«Nein», antwortete ich,«sie wollte das werden, was sie ist, und das ging nicht mit langen Haaren.»«Dann werde ich auch nicht mehr weinen», erwiderte Perina und tat es fortan nie wieder.
    In der Klausur des Klosters holte sich Perina das, was ich ihr verweigert hatte. Die Priorin sagt, meine Tochter zeichne mit der Nadel und sei - mit einer einzigen Nähnadel und einer Handvoll Garnrollen bewaffnet - in der Lage, alle meine Bilder zu kopieren: Sie male oder vielmehr sticke sowohl Banner für Zeremonien als auch Heiligenbildchen für ihre Mitschwestern. Sie macht also meinem Namen alle Ehre. Auch sie werde ich La Tintoretta nennen. Seit Jahren schickt sie uns stets zur rechten Zeit Schals, Handschuhe, Hemdkragen, Wollsocken und Schlafmützen, die sie eigenhändig gestrickt hat. Sie erinnert sich an all unsere Geburtstage, unsere Heiligen und Trauertage. Dann bestickt sie Seidenblüten
und bittet uns, sie in Madonna dell’Orto auf das Familiengrab zu legen. All

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