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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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Lido, werden mit Ätzkalk überschüttet und haben nicht einmal das Recht auf ein Kreuz. Ottavia aber muss wissen, dass sie deine Tochter ist.»Sie steckte ihr einen Pinsel zwischen die Finger.«Vielleicht wird auch aus ihr eine so große Malerin wie Timarete», merkte sie an.«Deswegen muss sie im Paradies, falls wir nicht zurückkehren sollten, die Möglichkeit haben zu üben.»In den kleinen Kinderhänden sah der Pinsel wie eine auf uns gerichtete Waffe aus.
    Dann läutete die Glocke, und auf dem Kanal tauchte der weiße Schleppkahn auf. Ich lehnte mich aus der Loggia, doch an Bord waren lediglich ein paar stämmige Kerle zu sehen. In den ersten Monaten der Seuche hatten die Ärzte mit einem in Essig getauchten Schwamm vor dem Mund den Erkrankten noch kurze Hausbesuche abgestattet, und die Bader hatten Beulen aufgeschnitten. Mittlerweile aber waren alle Ärzte verschwunden, sodass auch die anderen keinen Schnitt mehr wagten. Lediglich vier Straßenkehrer mit üblen Schurkengesichtern sprangen vom Boot, die Einzigen, die an dem allgegenwärtigen Sterben Geld verdienten. Obwohl die Regierung für das Wegschaffen der Pestkranken und Toten ein hohes Gehalt und zweihundert Dukaten als Belohnung in Aussicht gestellt hatte, war niemand dem Aufruf gefolgt.
Selbst diejenigen, die mit langer Haftstrafe im Gefängnis saßen, sowie Galeerensträflinge und Banditen weigerten sich. So waren Banden von Betrügern und Kriminellen aus fernen Tälern und Bergen über die Stadt hergefallen, die man, obwohl sie skrupellos raubten und plünderten, wider besseres Wissen anstellte, da man sich nicht anders zu helfen wusste.
    Diese Pizzicamorti oder Leichenzwicker waren nunmehr die Herren von Venedig geworden. Plündernd zogen sie durch die menschenleeren Gassen und sollen sogar durch offene Fenster infizierte Lumpen in gesunde Häuser geworfen und Tore und Türklopfer mit dem Pestserum bestrichen haben, um ungestraft weitermachen zu können. Auf Anordnung der Regierung hatten wir alle Ringe und Türklopfer abgenommen und die Fenster vernagelt, selbst im glühend heißen Sommer, als wir kaum Luft bekamen - doch das Übel war nicht zu stoppen. Da das Gerücht ging, sie seien möglicherweise die Überträger der Krankheit, rotteten wir sämtliche Katzen und Hunde in Venedig aus. Ich selbst massakrierte eigenhändig mit dem Schürhaken die rotbraune Katze, die uns jahrelang die Mäuse vom Hals gehalten und sich nun, blind und lahm geworden, das gestreichelt werden auf dem Arm meiner Töchter redlich verdient hatte. Trotz allen Flehens und Gezeters musste ich auch Marcos Hund beseitigen, ein friedliches Tier mit schwarzem Fell, das mein Sohn eines Tages am Ponte dei Mori fand, wo ihn Lausbuben aus dem Viertel aufgehängt hatten. Er hatte ihn gerettet, gefüttert und erzogen, der Hund war das einzige Geschöpf auf der Welt, um das sich Marco je mit Hingabe und Liebe gekümmert hat. Ich steckte ihn in einen Sack und ertränkte ihn in der Bucht von Sacca della Misericordia.
    «Ist hier das verseuchte Haus?», brüllte einer der Kerle. Von der Loggia aus winkten wir ihn herein. Er aber schickte uns mit einer obszönen Geste zum Teufel.«Schmeißt den Verseuchten raus!», verlangte er. Ein zweiter Kerl hievte einen Eimer mit einer milchig weißen Flüssigkeit vom Boot.«Sie kennzeichnen uns mit einem
Kreuz», flüsterte Dominico. Alle Häuser auf der gegenüberliegenden Seite, bereits seit Wochen verriegelt und verrammelt, waren mit schaurigen weißen Kreuzen markiert. Erst vergoss der zweite Kerl den Inhalt auf die Außenmauer, dann verstrich der dritte den Kalk mit dem Spachtel auf der Fassade. Meine schöne, mit Fresken versehene Fassade zum Kanal. Mein Palazzo, mein Lebenstraum - kalkverschmiert. Mit dem Kreuz gebrandmarkt. Vielleicht verloren.
    «Wo bleibt der Infizierte?», rief der erste Leichenzwicker, denn er wollte so wenig wie möglich von derselben Luft wie der Erkrankte atmen. Anfangs war immerhin noch ein barmherziger Bruder gekommen und hatte die dem Lazarett Geweihten gesegnet, doch selbst die blieben nun weg. Wir hatten zugesehen, wie unsere Nachbarn flehend und klagend fortgingen. Einer war ins Wasser gesprungen: Lieber wollte er vor dem Haus ertrinken, als zwischen Fremden ein paar Tage länger am Leben bleiben. Ein befreundeter Anwalt meines Schwagers, der den Mut besaß, ins Lazarett zu gehen und die Testamente seiner Klienten einzusammeln, berichtete von einem, der wahnsinnig geworden war, sich im Gemüsegarten in eine Hecke

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