Tintorettos Engel
Jahre alt.
Meine Mädchen vergötterten sie, weil sie immer fröhlich war. Sie nähten ihr Kleider und Seidenschühchen und staffierten sie wie einen Cherubin aus. Von Perina erfuhr ich, dass Ottavia hohes Fieber und einen bläulichen Fleck auf dem Oberschenkel hatte.«Aber er ist ganz klein, wie ein Blütenblättchen, Papa. Vielleicht ist es nur ein blauer Fleck. Sie wird sich an einer Kante gestoßen haben.»Ich befahl ihr, sie nicht anzufassen. Und vor ihrer Mutter kein Wort darüber zu verlieren. Denn ich hatte Angst, dass Faustina die Anzeichen überspielte und uns damit alle in die Verdammnis stürzte. Ich beugte mich über das schlummernde Kind und hob ihr weißes Leibchen an. Als ich das Mal auf ihrem Bein sah, Herr, ging mir etwas Grauenhaftes durch den Kopf.
Mein Freund Ramusio hat mir einmal von einem afrikanischen Volksstamm erzählt, der kleine Kinder von ihren Vätern fernhält. Bis zum Alter von fünf Jahren ist es allein Aufgabe der Frauen, sie zu versorgen, großzuziehen und häufig auch zu begraben. Erst wenn sie fünf geworden sind und man sicher sein kann, dass sie weiterleben werden, stellt man sie den Männern vor, die sie gezeugt haben. Alle hielten es für einen grausamen, barbarischen Brauch. Meiner Ansicht hatte er etwas Barmherziges. Wozu soll man jemanden lieb gewinnen, der sowieso sterben muss?
Über mein schlafendes Kind gebeugt sprach ich an jenem Tag im September folgendes Gebet: Herr, nimm sie zu dir. Wenn du tatsächlich einen von uns forderst, dann nimm die Jüngste. Wir kennen sie kaum. Sie hat noch keinen ausgeprägten Charakter, keine Neigungen oder Erinnerungen. Sie kann keine Angst vor dem Tod haben, denn nur dem, der gelebt hat, macht es etwas aus
zu sterben. Sie kann sich noch nicht an das Leben gewöhnt haben, sie weiß nichts von den Schönheiten der Welt. Es kann ihr nicht schwerfallen, sich von ihr zu trennen. Und auch uns nicht. Kein Wort hat sie an uns gerichtet, das uns in Erinnerung bleiben wird. Kein Versprechen. Ihre Durchreise auf Erden wird wie ein durch Staub streifender Finger nur eine seichte Spur in uns hinterlassen. Nimm sie.
Welch hohen Preis habe ich für diese Gedanken bezahlt, Herr.
In banger Furcht erwarteten wir die Ankunft der sogenannten Pizzicamorti, die die Erkrankten abholten. Sowohl das alte als auch das neue Lazarett, in das diejenigen mit Verdacht auf Pest eingeliefert wurden, quoll über. Daher hatten die Behörden alle vor Anker liegenden Schiffe und Galeeren beschlagnahmt und auf ihnen Bretterhütten errichtet. Sie erschufen so ein schwimmendes Lazarett, eine von bewaffneten Wachposten umzingelte Stadt auf Schiffen, voll mit Menschen, die zwischen Leben und Tod schwebten. Die Schiffe tauchten aus dem Dunstschleier vor Venedig auf und trieben unheilvoll in der Lagune umher. Boote pendelten von Insel zu Schiff, von Schiff zu Insel - die Lagune hatte sich in einen stygischen Sumpf verwandelt, jeder Fährmann in einen Charon und ein jeder von uns in eine Seele mit ungewisser Bestimmung. In jenen Tagen machten die ersten Zahlen die Runde. Anfangs im Flüsterton hinter vorgehaltener Hand, dann rief man sie sich von Fenster zu Fenster zu - laut und voller Entsetzen. Zerstörerische, unkontrollierbare, erschreckende Zahlen. Zehntausend Tote, zwanzigtausend, dreißigtausend. Meine Stadt lag im Sterben.
Inzwischen waren auch die in der Lagune festgemachten Schiffe dermaßen überfüllt, dass nicht mehr alle Angehörigen der unter Verdacht Stehenden fortgebracht werden konnten. Perina bot sich an, ihre Schwester zu begleiten. Faustina konnte die anderen Kinder und ich meine Familie nicht allein lassen, Marietta würde eine Künstlerin werden, Venedigs und Italiens erste große Malerin,
und die Jungen würden eines Tages für mich arbeiten und mir im Alter ein würdiges Dasein gewähren. Perina aber war erst zwölf Jahre alt - und letzten Endes von uns allen am wenigsten eingebunden.«Du wirst sterben», sagte Marco bestürzt zu ihr.«Wenn Gott will», erwiderte Perina,«nur er kennt unsere Wege. Aber wenigstens wird Ottavia jemanden an ihrer Seite gehabt haben, und ich werde für etwas nützlich gewesen sein.»
Perina wickelte um ihre Schwester ein Seidentuch, auf das sie in großen Buchstaben ihren Namen gestickt hatte: Ottavia Tintoretta.«Die Luft ist so verseucht», erklärte sie uns,«der Übertragungsweg so rätselhaft, die Toten so zahlreich, dass sie nicht einmal mehr Zeit haben, die Leichen zu verbrennen. Sie kommen in Massengräber am
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