Titan 15
höchsten Punkt des Berges, aber es war zu viel Staub in der Luft, als daß ich hätte sehen können, was vor mir lag. War ja auch gleichgültig; schließlich habe ich die meisten Landkarten im Kopf. Ich schwenkte nach links bergab und nahm den Fuß etwas vom Gas. Seitenwind und fester Boden ließen die Flammen ersterben. Ich kam mir vor wie Odysseus in Malebolge – mit einem Hexameter-
Gesang in der Hand auf Dante wartend.
Ich umrundete eine Felspagode und war da.
Betty winkte, als ich anhielt und aus dem Wagen sprang.
»Hi«, hustete ich, wickelte mich aus meinem Tuch und schüttelte zwei Pfund Sand heraus. »Wo geht’s denn lang, und wen werden meine Äuglein sehen?«
Sie kicherte, wohl eher, weil ich ›wo geht’s denn lang‹ gesagt hatte, als wegen des Sandes, der mich so plagte. Dann fing sie zu reden an. (Sie ist Sprachkundlerin, eine der besten, die es gibt, und ein gelegentlicher Slangausdruck macht ihr mächtig Spaß!)
Ich mag die Art und Weise, wie sie redet: präzis, eindeutig, aber nicht geschraubt. Mir standen jetzt genug Höflichkeitsfloskeln bevor; sie würden bis ans Ende meines Lebens reichen. Ich sah ihre schokoladenbraunen Augen, ihre perfekten Zähne, ihr von der Sonne gebleichtes Haar, das kurzgeschoren war und wie eine Kappe am Kopf anlag (ich mag Blondinen nicht!), und kam zu der Feststellung, daß sie in mich verliebt war.
»Mr. Gallinger, die Matriarchin wartet drinnen und will vorgestellt werden. Sie hat sich einverstanden erklärt, Ihnen die Tempelakten zu zeigen, damit Sie sie studieren können.« Sie hielt inne, schob sich – völlig unnötig – das Haar zurecht und senkte die Augen. Ob mein Blick sie nervös machte?
»Es handelt sich um religiöse Dokumente und gleichzeitig um das einzige Geschichtswerk, das es hier gibt«, fuhr sie fort. »Man kann es mit dem Mahabharata vergleichen. Sie erwartet, daß Sie ein gewisses Ritual befolgen, wenn Sie die Dokumente berühren. Das heißt, Sie müssen die geheiligten Worte wiederholen, wenn Sie umblättern. Sie wird es Ihnen genau erklären.«
Ich nickte schnell.
»Schön, gehen wir rein.«
»Äh«, sie hielt inne. »Vergessen Sie nicht die elf Regeln der Höflichkeit und des Ranges. Man nimmt hier Formsachen sehr ernst. Und lassen Sie sich ja nicht auf irgendeine Diskussion über die Gleichheit der Geschlechter ein.«
»Ich kenne ihre Tabus alle«, unterbrach ich sie. »Keine Sorge. Ich habe im Orient gelebt. Erinnern Sie sich?«
Sie senkte den Blick und griff nach meiner Hand. Ich riß sie ihr beinahe weg.
»Es wird besser aussehen, wenn ich Sie beim Hineingehen führe.«
Ich schluckte meinen Einwand hinunter und folgte ihr, wie einst Samson in Gaza.
Als ich drinnen war, fiel mir mein letzter Gedanke wieder ein. Die Wohnung der Matriarchin kam mir wie eine Abstraktion der israelischen Zelte vor. Eine Abstraktion, denn die Wände bestanden aus mit Fresken bemalten Ziegeln und trafen sich über mir in einer Kuppel. Graublaue Tierhäute, die so aussahen, als hätte man sie mit dem Messer gekerbt, schmücken den Raum.
Die Matriarchin M’Cwyie war klein, weißhaarig, um die fünfzig und angezogen wie eine Zigeunerkönigin. In ihren voluminösen Röcken, die in allen Farben des Regenbogens leuchteten, sah sie wie eine umgestülpte Punschbowle aus, die man auf ein Kissen gesetzt hatte.
Nachdem sie meine Verbeugungen zur Kenntnis genommen hatte, sah sie mich an, als ob eine Eule ein Kaninchen anstarrte. Die Lider ihrer schwarzen Augen hoben sich, als ihr meine perfekte Aussprache auffiel. Betty hatte schließlich bei ihren Gesprächen nicht umsonst ein Tonbandgerät mitgehabt, und außerdem kannte ich die Sprachberichte von den beiden ersten Expeditionen, und zwar aufs Wort. Mich schlägt so leicht keiner, wenn es darauf ankommt, mir eine perfekte Aussprache anzueignen.
»Sie sind der Dichter?«
»Ja«, antwortete ich.
»Rezitieren Sie mir eines Ihrer Gedichte, bitte.« – »Es tut mir leid. Aber um gleichzeitig Ihrer Sprache und meiner Dichtung gerecht zu werden, wäre eine gründliche Übersetzung erforderlich, und dazu beherrsche ich Ihre Sprache noch nicht gut genug.«
»Oh?«
»Aber ich habe zu meinem eigenen Vergnügen solche Übersetzungen gemacht, als Grammatikübung«, fuhr ich fort. »Es wäre mir eine Ehre, einige davon mitzubringen, wenn ich wieder hierher komme.«
»Ja. Tun Sie das.« Eins zu null für mich. Sie wandte sich Betty zu. »Sie können jetzt gehen.« Betty murmelte die beim Abschied
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