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Titan 15

Titan 15

Titel: Titan 15 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg , Wolfgang Jeschke
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ansieht.
    Ich erhob mich von meiner Pritsche und trat an eines der Fenster in der dunklen Kabine. Die Wüste war ein endloser orangeroter Teppich, unter den Jahrhunderte ihren Staub gekehrt hatten.
    Ich lachte.
    Ich hatte die Hochsprache schon in der Hand, besser gesagt: auf der Zunge, wenn ich es ganz genau ausdrücken soll.
    Die Hochsprache und die Vulgärsprache waren nicht so unterschiedlich, wie es am Anfang geschienen hatte. Ich kannte die eine schon genügend, um der anderen nicht völlig fremd gegenüberzustehen. Die Grammatik und die gebräuchlicheren unregelmäßigen Verben konnte ich bereits; und das Wörterbuch, an dem ich arbeitete, wuchs Tag für Tag wie eine Tulpe und würde bald in Blüte stehen. Und jedesmal, wenn ich meine Bänder abspielte, wurde ihr Stiel länger.
    Jetzt war es an der Zeit, mein Genie zu erproben, meine Lektionen zu beschleunigen. Ich hatte bewußt Abstand davon genommen, die wichtigeren Texte in Angriff zu nehmen, bevor ich wirklich eine Chance hatte, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich hatte ein paar unbedeutende Kommentare gelesen, ein paar Verse, ein paar Bruchstücke aus der Geschichte. Und eines hatte mich immer wieder sehr beeindruckt.
    Sie schrieben von konkreten Dingen: Fels, Sand, Wasser, Winde; und der Tenor, der sich hinter dieser elementaren Symbolik verbarg, war ungemein pessimistisch. Das Ganze erinnerte mich an buddhistische Texte, aber je mehr ich mich damit beschäftigte, desto klarer wurde mir, daß eine große Ähnlichkeit mit dem Alten Testament bestand. Und ganz besonders erinnerte es mich an das Buch des Predigers.
    Und so würde es sein. Der Geist, ebenso wie das Vokabular, waren sich so ähnlich, daß es eine perfekte Übung abgeben würde, wie eine Übersetzung von Poe ins Französische. Ich würde mich wohl nie vom Malann bekehren lassen, aber ich würde ihnen zeigen, daß ein Erdenmensch einst ähnlich gedacht, ähnlich empfunden hatte.
    Meine Fortschritte schienen M’Cwyie zu erstaunen. Sie starrte mich wie Sartres ›Anderer‹ über den Tisch hinweg an. Ich las ein Kapitel im Buch Locar. Ich blickte nicht auf, aber ich spürte das dichte Netz, das ihre prüfenden Augen um meinen Kopf spannten, meinen Kopf, die Schultern und die schnellen Hände. Ich blätterte eine Seite um.
    Wog sie das Netz, versuchte sie die Stärke ihres Fadens abzuschätzen? Wozu? Die Bücher sagten nichts von Fischern auf dem Mars. Überhaupt nichts von Männern. Sie sagten, ein Gott namens Malann hätte einst ausgespuckt, oder er hätte (je nach der Version, die man las) etwas Ekelerregendes getan. Daraus sei dann das Leben entstanden wie eine Krankheit in einer anorganischen Substanz. Sie sagten, die Bewegung sei das erste Gesetz des Lebens, das erste Gesetz überhaupt, und der Tanz sei die einzig zulässige Erwiderung auf das Anorganische – die Qualität des Tanzes, seine Berechtigung – und Liebe eine Krankheit des Organischen – des Anorganischen?
    Ich schüttelte den Kopf. Ich war beinahe eingeschlafen.
    »M’narra!«
    Ich stand auf, streckte mich. Ihre Augen musterten mich jetzt begierig. Also erwiderte ich ihren Blick, und ihre Augen senkten sich.
    »Ich bin müde. Ich möchte eine Weile ausruhen. Ich habe letzte Nacht nicht viel geschlafen.«
    Sie nickte, die Kurzschrift der Erde für ›ja‹. Sie hatte es von mir gelernt. »Sie wünschen, sich zu entspannen und die Lehre von Locar in ihrer ganzen Fülle ausgedrückt zu sehen?«
    »Wie bitte?«
    »Wünschen Sie einen Tanz des Locar zu sehen?«
    »Oh.« Ihre verdammte Geschraubtheit in der Gestik und Sprache war ja noch schlimmer als die des Koreanischen!
    »Ja. Sicher. Ich würde das sehr gerne sehen.«
    Ich fuhr fort: »Außerdem hatte ich vor, Sie zu fragen, ob ich ein paar Bilder machen dürfte…«
    »Das hat Zeit. Setzen Sie sich. Ruhen Sie aus. Ich werde die Musiker rufen.«
    Sie huschte durch eine Tür hinaus, die ich bisher noch nie gesehen hatte.
    Nun schön. Nach Locar war der Tanz die höchste Form der Kunst, ganz zu schweigen von Havelock Ellis, und ich würde jetzt miterleben, wie diese Kunst nach Meinung ihres seit Jahrhunderten toten Philosophen ausgeübt werden sollte. Ich rieb mir die Augen und machte dann ein paar Freiübungen.
    Das Blut begann in meinen Schläfen zu pochen, und ich holte ein paarmal tief Luft. Als ich mich wieder vorbeugte, bewegte sich an der Tür etwas.
    Für die drei, die mit M’Cwyie hereinkamen, mußte ich – wie ich so vorgebeugt dastand – ausgesehen

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