TITANIC-WORLD
Schornsteine allerdings – so authentisch sie auch waren – erregten Emilys Missfallen. Denn über ihnen prangte in schreiend bunter Jahrmarktsmanier der Schriftzug TITANIC-WORLD !
In ihrer Familie war viel über den Bau einer Erlebniswelt diskutiert worden, die den Tod von 1.503 Menschen thematisierte. Während ihre Geschwister die TITANICWORLD rigoros ablehnten, wusste Emily nicht recht, was sie davon halten sollte. So gesehen freute es sie, dass die Finanzierung eines neuen Titanic-Museums keine Steuergelder verschlungen hatte, denn die britische Wirtschaft befand sich nach wie vor in desolatem Zustand und der Unterhalt hätte Southampton in den kommenden Jahren zigtausende von Pfund gekostet. Denn Emily gehörte zu den Southamtoner Bürgern die fanden, dass die permanente Titanic-Ausstellung im hiesigen Maritim Museum , die es bereits seit Jahrzehnten gab, sehr bescheiden und nicht mehr zeitgemäß war. Ihre Nichte Sally, die dort arbeitete, bestätigte Emilys Vermutungen, dass mittlerweile nur noch eingefleischte Titanic-Fans dem Museum einen Besuch abstatten würden. Die TITANIC ist und bleibt das berühmteste Schiff aller Zeiten, hatte Sally im vergangenen Jahr zu ihrer Tante gesagt, aber das Interesse – gerade bei den jungen Leuten – nimmt immer mehr ab. In spätestens zehn Jahren interessiert sich kaum noch jemand für das Unglück, orakelte sie, und dann ist TITANIC wirklich nur noch Geschichte. Deswegen fand ihre Nichte die Idee einer Erlebniswelt richtig und verteidigte ihren Standpunkt entschlossen gegenüber der Familie. Es lag letztendlich an Sallys guter Argumentation, dass Emily im vergangenen Oktober ein Ticket bestellt hatte. Allerdings ohne das Wissen ihrer Geschwister, da ihr nicht der Sinn nach weiteren Diskussionen stand. Zudem wollte sie sich selbst ein Bild machen, bevor sie in das Kriegsgeheul ihrer Familie miteinstimmte.
Als sie jetzt die im Hafen liegende TITANIC-WORLD betrachtete, kam ihr der Gedanke, dass die Lücke, die ihr Großvater 1912 hinterlassen hatte, innerhalb ihrer Familie niemals geschlossen worden war. Großvater Joseph hatte bei der Katastrophe sein Leben verloren und Großmutter Bertha mit fünf kleinen Kindern zurück gelassen. Emily, die Oma Bertha als Kind noch gekannt hatte, konnte sich noch gut an die Traurigkeit in ihrer Stimme erinnern, wenn sie von dem Untergang der TITANIC sprach. Auch von der schweren Zeit nach dem Unglück hatte ihre Großmutter oft erzählt. Möglicherweise war sie heute auch aus diesem Grund hier. Sie würde das Schiff, das ihren Großvater in den Tod gerissen hatte, kennenlernen. So wie er einst dem Tod mutig ins Auge geblickt hatte, so würde sie dem Feind gleichfalls ins Antlitz sehen; und vielleicht begann sich die Lücke dann endlich zu schließen. Mit langsamen, aber entschlossenen Schritte ging Emily Pearson auf die Erlebniswelt zu.
„Dieser Inspektor ist ein aufgeblasener Arsch“, rief Craig erbost aus und begann erneut in Cecilias Büro auf und ab zu gehen.
„Um Himmels Willen! Setz‘ dich! Du machst mich ganz nervös mit deiner Rumrennerei!“ Cecilia barg das Gesicht in den Händen und holte tief Luft. Vor etwa zwanzig Minuten war Craig aufgebracht zu ihr gekommen. Die Ermittlungen derPolizei liefen seit dem vergangenen Freitagabend auf Hochtouren, aber bislang waren die Erkenntnisse mehr als dürftig. Halb spöttisch, halb wütend hatte er sich darüber ausgelassen und ihre ohnehin schon zum Zerreißen gespannten Nerven überstrapaziert. Seit ihrer Entdeckung am Sonntagnachmittag, befand sich Cecilia in einer Art Vakuum. Nach außen hin gab sie sich so, wie es von ihr als Geschäftsführerin erwartet wurde. Doch kaum war sie allein, da fiel jegliche Selbstbeherrschung von ihr ab und sie fürchtete den Verstand zu verlieren. Wenn sie in diesen Momenten – in denen sie fieberhaft mit sich selber sprach und das Unerklärliche zu erklären versuchte – von einem der Mitarbeiter gesehen worden wäre, hätten schnell Gerüchte über ihren Geisteszustand die Runde gemacht. Seit Sonntag zermürbte sie sich zudem den Kopf, wem sie sich anvertrauen könnte; aber die Angst, für verrückt gehalten zu werden, war zu groß. Ab und zu gelang es ihr, die Gedanken, die ihr seit drei Nächten den Schlaf raubten, zurückzudrängen. Dann setzte sie ihre ganze Hoffnung auf die Spurensuche der Polizei; und mit größter Mühe schaffte sie es jedesmal sich einzureden, dass sämtliche Vorfälle letztendlich eine realistische , plausible
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