TITANIC-WORLD
Besuch abstatten, überlegte sie und ließ dem Gedanken die Tat folgen. Da es sich nur um eine Etage handelte benutzte Emily wieder die Treppe. Falls sie sich später dazu entschließen sollte, auch das F-Deck zu besichtigen, würde sie allerdings den Aufzug nehmen. Vor einigen Wochen hatte ihr Hausarzt bei einer Routineuntersuchung festgestellt, dass ihre Aortenklappen eine leichte Insuffizienz aufwiesen. Seit dem nahm Emily pflichtschuldigst jeden Morgen eine kleine blaue Tablette und fügte sich dem ärztlichen Ratschlag, körperliche Anstrengungen und Aufregungen zu vermeiden. Dass sie aber auch auf ihr allabendliches Gläschen Sherry verzichten sollte, wurmte sie. Es fiel ihr schwer sich vorzustellen, dass ein Sherry am Tag ihrem Herzen weiteren Schaden zufügen konnte. Da Emily ihren eigenen Kopf hatte, verzichtete sie unter der Woche auf Alkohol; aber am Wochenende gönnte sie sich nach wie vor ein Gläschen.
Die Hall of Silence auf dem A-Deck faszinierte sie. Sie bestaunte ein etwa vier Meter langes und zwei Meter hohes Wrackteil, das einmal ein Stück der Bordwand gewesen war; und sie fand die Beschreibung seiner dramatischen Bergung fast so spannend, wie einen Krimi. Bewundernd betrachtete sie den matten Glanz einer Deckenlampe aus Messing, deren Prismen im Licht der kleinen Vitrinenscheinwerfer funkelten. Der beigefügte Hinweis, dass sie bei der Expedition 2000 geborgen worden war, veranlasste Emily dazu rasch nachzurechnen. Achtundachtzig Jahre lang hatte diese Deckenlampe – die einst im Treppenhaus der ersten Klasse beheimatet gewesen war – auf dem Grund des Ozeans in nachtschwarzer Finsternis geruht. Verblüfft fragte sie sich, wie dieses kleine Meisterwerk der Handwerkskunst den Aufprall hatte unbeschadet überstehen können. In der nächsten Vitrine – und dieses Mal wollte Emily ihren Augen wirklich nicht trauen – stand eine Kiste mit drei Champagnerflaschen. Fassungslos stand sie davor. Sie konnte kaum glauben, dass diese edlen Tropfen die Reise auf den Grund des Atlantiks gleichfalls völlig unversehrt überstanden hatten – und über achtzig Jahre verkorkt geblieben waren. Aber trinken kann man den bestimmt nicht mehr, dachte sie bedauernd. Sie setzte ihre Besichtigung fort. Nach dem sie sämtliche Artefakte betrachtet hatte, konnte sie nicht sagen, was sie mehr faszinierte; die hervorragende Arbeit der Konservatoren oder die Tatsache, dass so viele, gerade zerbrechliche Gegenstände, den Untergang ohne Schaden zu nehmen, überstanden hatten. Beeindruckt verließ sie die Hall of Silence und zog wiederum ihren kleinen Wegweiser zu Rate. Dann ging sie mit entschlossenen Schritten in Richtung Rauchsalon . Die völlig intakten Champagnerflaschen hatten Emily auf die Idee gebracht, dass es sich bei einem Glas Dom Pèrignon im Rauchsalon genauso gut verschnaufen ließ, wie bei einer Tasse Tee im Veranda Cafè ; etwas, dass sie ursprünglich beabsichtigt hatte. Auf dem Weg dorthin schug ihr schlechtes Gewissen. So gesehen würde sie nicht nur dem ärztlichen Rat trotzen, sondern auch dem sich selbst gegebenen Versprechen, nur am Wochenende Alkohol zu trinken. Sie entschuldigte ihre Absicht damit, dass heute ein ganz besonderer Tag sei, dem nur ein Gläschen Champagner gerecht werden konnte. Auf dem Weg zum Rauchsalon kam Emily an dem Souvenirshop vorbei undentschied, dass sie, falls sie ein Andenken erstehen wollte, nach der Besichtigung reichlich Zeit hatte, es zu tun. Das große Titanic-Modell, gleich neben der Eingangstüre, erweckte hingegen ihre Aufmerksamkeit. Eine Weile betrachtete sie die nachgestellte Szene nachdenklich. Stolz und aufrecht dampfte das Schiff, den glitzerden Eisbergen zum Trotz, durch den nächtlichen Atlantik. Für Emily hatte dieses Szenario einen Ewigkeitscharakter; doch bei seinem Anblick lief ihr ein unerklärlicher Schauer über den Rücken. Sie will nicht begafft werden, schoss es ihr durch den Kopf, bevor sie sich mit einem Gefühl des äußersten Unbehagens abwandte. Mit raschen Schritten ging sie weiter. Erst als sie im hinteren Treppenhaus der ersten Klasse stand, blieb sie stehen und sah sich – von einer plötzlichen, unerklärlichen Angst befallen – jäh um. Ein noch junger Mann, mit einem etwas aus der Mode gekommenen Haarschnitt, blickte zu ihr herüber. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Sekunden setzte Emilys Herzschlag für einen Moment aus. Die Gestalt des Mannes schien einen Augenblick lang verschwommen und eine Feindseligkeit, die fast greifbar
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