TITANIC-WORLD
Seite ihres Mannes auf dem allgemeinen Friedhof und nicht in der Familiengruft. Er zahlte für eine einfache Beerdigung, an der er jedoch nicht teilnahm; in seinen Augen war seine Schwester bereits vor Jahren gestorben. Seinen knapp zweijährigen Neffen wollte er in ein Waisenhaus geben. Nichts sollte ihn je wieder an die Schande erinnern, die seine Schwester mit ihrer unstandesgemäßen Heirat über den Namen Blake gebracht hatte. Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, entschloss er sich aus einem Impuls heraus, den Kleinen persönlich dort abzugeben. Als er ihn bei der Nachbarin, die sich nach Judiths Tod um ihn gekümmert hatte, abholen wollte, stockte Nathan der Atem. Vor ihm stand ein kleiner Junge, der sein Sohn hätte sein können. Nichts, weder in seiner Haltung noch in dem Gesichtchen, deutete auf seine proletarische Herkunft hin. Zart war der Junge, ein bisschen klein für sein Alter, aber er stand aufrecht da und sah Nathan an. Seine Augen waren blau wie die seinen und die Familienähnlichkeit nicht zu übersehen. Nathans Herz tat einen Sprung und er wusste in diesem Moment, dass er den Kleinen, der da so tapfer an seinen Tränen schluckte, niemals in ein Waisenhaus würde geben können.
Als er jetzt daran dachte, erschien das Bild vor seinem geistigen Auge, dass er immerin seinem Herzen getragen, aber nur selten an die Oberfläche gelassen hatte. Etwa drei Jahre nach dem er den Jungen bei sich aufgenommen hatte, war er nach einem arbeitsreichen Tag nach oben gegangen, um Gute Nacht zu sagen. Die Tür zu Craigs Zimmer stand einen Spalt offen und er hörte, wie das Kindermädchen den Jungen ermahnte, in seinem Gebet auch an Vater und Mutter zu denken. Craig schüttelte den Kopf und erklärte feierlich, dass der liebe Gott ihm keine Eltern gegeben hätte, dafür aber Onkel Nathan. Dann sah er seinen Onkel in der Türe stehen. Mit lautem Freudengeheul war Craig aus dem Bett gesprungen, Nathan geradewegs in die Arme. Dabei hatte er laut gerufen: „Ich brauch‘ keine Eltern! Ich hab‘ ja dich, Onkel Nathan! Ich hab‘ ja dich!“
Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte. Mit einiger Verwunderung hob Nathan den Hörer ab. Dabei bemerkte er, dass der Morgen langsam über dem Central Park dämmerte. Derart in Gedanken versunken hatte er es gar nicht bemerkt.
„Ja?“
„Nathan? Hier ist Paul.“ Nach diesen Worten blieb es einen Moment still in der Leitung. Dann sagte die Stimme seines Chefkonservators: „Es ist vollbracht.“
„Danke, Paul“, antwortete Nathan und legte auf.
Für einen Augenblick schloss er die Augen und atmete tief durch. Fast zwei Jahre lang hatte er auf die drei Worte gewartet und jetzt war es endlich, endlich soweit! Ganz kurz überfiel ihn der Gedanke an seinen Traum, doch er schüttelte ihn ab. Gleichzeitig musste er an Cecilia denken und sein Blick ruhte nachdenklich auf dem Foto, das auf seinem Schreibtisch stand. Es war eine Aufnahme anlässlich seines sechzigsten Geburtstags. Er selbst stand in der Mitte, während Cecilia und Craig sich rechts und links von ihm postiert hatten. Cecilia trug ein langes weißes Kleid mit einer Schleppe, dessen Mieder mit unzähligen Strasssteinen besetzt war. Ihr Haar war hoch gesteckt und mit einer Agraffe verziert. Die beiden Herren trugen Smoking. Als Cecilia es zum ersten Mal sah, hatte sie lachend ausgerufen, die Fotografie sähe aus, wie ein Hochzeitsbild. Das stimmte, auch wenn niemand genau hätte sagen können, wer denn jetzt der glückliche Bräutigam war. Nathan betrachtete das Foto eingehend. Cecilia war eine kluge Frau und eine erstklassige Historikerin. Er respektierte sie und ihre Arbeit. Trotzdem würde er sie vernichten. Ihre Klugheit hielt sie nämlich davon ab, seinen Neffen zu heiraten und Nathan wusste, wie sehr Craig darunter litt. Er konnte ihr nicht verzeihen, dass sie nicht über ihren Schatten sprang, um den Mann – den er, wie einen Sohn liebte – glücklich zu machen. Cecilia hatte die TITANIC-WORLD entworfen und ihr Herzblut in diese Arbeit gesteckt; und so, wie Thomas Andrews mit seinem Meisterwerk untergegangen war, so würde die TITANIC-WORLD auch Cecilias Ruin bedeuten.
Im Mai würde sein Neffe der Welt das begehrteste Artefakt der Geschichte präsentieren und Cecilias Stern vom Himmel reißen! Nach der Veröffentlichung würde sie wieder das sein, was sie vor sechzehn Jahren gewesen war – eine Titanic-Historikerin ohne Zukunft und vor allem ohne Studienobjekt! Denn er allein hielt die ganze
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