TITANIC-WORLD
ließen sie durch. Neben dem Boot stand ein Offizier. Er hielt eine Pistole in der Hand und drohte erregt, jeden Mann niederzuschießen, der versuchen sollte die Barriere zu durchbrechen.
„Ganz, wie auf der echten TITANIC“, bemerkte einer der Prager mit erzwungenem Lachen. „Frauen und Kinder zuerst.“ Er warf den Anderen einen Blick zu, der aufmunternd sein sollte – es aber nicht war. Das ganze Szenario wirkte so realistisch, so lebensecht und so bedrohlich, dass alle fünf einen Moment vor Furcht wie gelähmt dastanden. Schließlich gab sich einer der Männer einen Ruck. Er nahm die beiden Frauen beim Arm und geleitete sie bis an die Absperrung. Zwei Matrosen ließen die Frauen wortlos passieren. Doch als der Mann folgen wollte, wurde er mit derben Rippenstößen zurück gedrängt. Ungläubig versuchte er es ein zweites, ein drittes Mal – ohne Erfolg. Entsetzen packte ihn, als plötzlich der Offizier vor ihm stand. Mit erhobener Pistole brüllte er, der Mann solle sich gefälligst wie ein Gentleman benehmen und zurück treten. Da ergriff eine Welle das Schiff und tauchte den Bug tiefer ins Wasser. Einer der Prager verlor das Gleichgewicht und stürzte mit einem Schrei in die schäumende See. Der dritte Mann starrte ihm bestürzt nach. Er hatte die Szene an der Absperrung verfolgt und bis zum Schluss gedacht, dass es sich ja nur um eine virtuelle, nicht wirkliche Situation handelte und ihnen keine ernstliche Gefahr drohte. Doch als er seinen Reisegefährten in die Tiefe stürzen sah, überfiel ihn maßloses Entsetzen. Mit einem Aufschrei warf er sich nach vorne. Panisch schlug er zwei Matrosen nieder und stürzte auf das rettende Boot zu. Der andere Mann aus seiner Reisegruppe folgte ihm geistesgegenwärtig. Doch bevor sie es schafften hinein zu klettern, zogen grobe Hände
sie wieder zurück. In Todesangst klammerten sie sich fest. Zwei Schüsse erklangen.
Die Augen in ungläubigem Staunen aufgerissen, fielen ihre toten Körper polternd auf das Deck zurück.
Als ihr Begleiter die Tür zum Freiluftbereich der dritten Klasse aufstieß, schlug Gemma die eiskalte Nachtluft entgegen und sie erschauderte. Schwer atmend blieben sie einen Moment stehen. Als sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, konnte sie nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken. Unzählige Menschen standen auf dem immer abschüssiger werdenden Deck und starrten sie und den jungen Mann böse an. Der jedoch ignorierte die Feindseligkeit, die ihnen von allen Seiten entgegen schlug und zog Gemma weiter. Hand in Hand liefen sie auf eine schmale Treppe zu. Zuihrem Entsetzen sah sie, dass auch hier ein Gitter den Durchgang versperrte. Doch als sie näher kamen, atmete Gemma auf. Die Absperrung war nur hüfthoch, sie konnten darüber klettern. Nach dem sie auf der anderen Seite angekommen war, sah sie sich um. Der junge Mann stand dort, wo sie ihn verlassen hatte und machte keine Anstalten, die Barriere zu überwinden. Stattdessen lächelte er ihr schüchtern zu und hob die Hand zu einem Abschiedsgruß. Mit gerunzelten Brauen starrte sie ihn eine Sekunde an. Dann verstand sie. „Nein!“ Gemmas Schrei zerriss die Nacht. Sie umklammerte seine Arme und versuchte ihn zu sich zu ziehen, aber er schüttelte stumm den Kopf und wies auf ein Schild an der Gittertüre: No trespassing – Second Class Promenade . Als sie das las, wurde ihr schlecht.
Vor etwa einem Jahr hatte sie sich das Buch 3.800 Meter – Massengrab TITANIC gekauft und Cecilias Ausführungen damals kaum Glauben zu schenken vermocht. Doch jetzt sah sie, dass die Düsseldorfer Historikerin Recht gehabt hatte. Selbst in einer lebensgefährlichen Situation, konnten sich die Zwischendeckpassagiere nicht von ihrer, fast angeborenen, Gehorsamspflicht befreien. Es war ihnen so in Fleisch und Blut übergegangen, Befehlen, mündlicher oder schriftlicher Natur, bedingungslos Folge zu leisten. Selbst im Angesicht des Todes hatten sie sich nicht getraut, eine Absperrung zu überwinden, nur weil ein Schild es verbat! Diese Erkenntnis traf Gemma, wie ein Keulenschlag. Ihr ganzes Innerstes lehnte sich dagegen auf und fieberhaft sprach sie auf den jungen Mann ein.
„Bitte. Bitte, ignorier dieses Schild und komm mit mir. Siehst du die Tür hinter mir? Ja? Dahinter ist ein Treppenhaus, das uns schnurgerade nach oben führt – auf das Bootsdeck, in Sicherheit! Bitte, bitte komm mit!“
Doch der junge Mann schüttelte den Kopf. Mit unendlich traurigen Augen sah er Gemma an. Behutsam löste er
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