TITLE
gehn in ihrer blassen kranken Vestalentracht einher; wirf du sie ab!
Sie ist es, meine Göttin! meine Liebe!
O, wüßte sie, daß sie es ist!«
Der Leser kennt die Zaubermacht, welche das Altertum dem Gesang der Sirenen zuschrieb, eine Macht, welcher Ulysses nur dadurch entrann, daß er seine Reisegefährten an die Masten seiner Schiffe festband und sich selbst die Ohren mit Wachs verstopfte. Leider ward ich durch kein Band gefesselt. Meine Ohren standen allen sinnlichen Melodien der Liebe geöffnet, die Stimme lockte mich mit unwiderstehlicher Gewalt. Ich setzte den Fuß auf den Balkon. Mein Herz pochte immer starker, meine Lippen bebten. Und als ob sie das Geheimnis meines Herzens gekannt hätte, fuhr die Stimme fort:
»Sie spricht, doch sagt sie nichts; was schadet das?
Ihr Auge spricht, ich will ihm Antwort geben.
Ich bin zu kühn, es redet nicht zu mir.
Ein Paar der schönsten Stern' am ganzen Himmel
Wird ausgesandt, und bittet Juliens Augen
In Ihren Kreisen unterdeß zu funkeln.
Doch wären ihre Augen dort, die Sterne
In ihrem Antlitz? Würde nicht der Glanz
Von ihren Wangen jene so beschämen,
Wie Sonnenlicht die Lampe? Würd' er auch,
Aus luft'gen Höh'n sich nicht so hell ergießen,
Daß Vögel sängen, froh den Tag zu grüßen?«
Hingerissen von dieser magischen Poesie, und indem ich in den Geist meiner Rolle einzugehen begann, dachte ich an Mistreß Siddons und ließ den Kopf auf die Hand sinken. Mein unbekannter Romeo, welcher einen Augenblick zu warten schien, damit ich Zeit hätte, mich mit der Szene in die richtige Wechselwirkung zu setzen, fuhr fort:
»O, wie sie auf die Hand die Wange lehnt!
War' ich der Handschuh doch auf dieser Hand
Und küßte diese Wange!«
Ich wußte nichts Besseres zu tun, als mit dem Dichter zu antworten:
»Weh mir!«
In einem leidenschaftlichen Tone, welcher alle Fibern meines Herzens erbeben machte, hob die Stimme wieder an:
»Sie spricht! O, sprich noch einmal, holder Engel!
Denn über meinem Haupt erscheinest du
Der Nacht so glorreich wie ein Flügelbote
Des Himmels dem erstaunten, über sich
Gekehrten Aug' der Menschensöhne, die
Sich rücklings werfen, um ihm nachzuschauen,
Wenn er dahinfährt auf den trägen Wolken,
Und auf der Luft gewölbtem Busen schwebt.
Die Reihe des Sprechens war nun an mir. Ich drückte meine beiden Hände auf mein Herz und in einem Tone, der meinem Mitspieler, welchen ich in dem nächtlichen Dunkel erriet, nichts zu wünschen übrig ließ, antwortete ich:
»O Romeo, warum denn Romeo?
Verleugne deinen Vater, deinen Namen!
Willst du es nicht, schwör' dich zu meinem Liebsten,
Und ich bin länger keine Capulet!«
Die Stimme murmelte:
»Hör' ich noch länger oder soll ich reden?«
Ganz in meine Rolle eingehend, hob ich, indem ich meiner Stimme den holdesten Ausdruck zu geben suchte, wieder an:
Dein Nam' ist nur mein Feind, du bliebst du selbst,
Und wärst du auch kein Montague.
Was ist Denn Montague? Es ist nicht Hand, nicht Fuß,
Nicht Arm noch Antlitz, noch ein anderer Teil.
Was ist ein Name? Was uns Rose heißt,
Wie es auch hieße, würde lieblich duften.
So Romeo, wenn er auch anders hieße,
Er würde doch den tötlichen Gehalt
Bewahren, welcher sein ist ohne Titel.
O, Romeo, leg deinen Namen ab
Und für den Namen, der dein Selbst nicht ist,
Nimm meines ganz.«
Ich gestehe, daß ich mit gewaltiger Gemütsbewegung die Antwort erwartete. Dieselbe ließ nicht lange auf sich warten, undRomeo hob mit einem zärtlichen Ton, welcher dem meinigen in keiner Beziehung nachstand, wieder an:
»Ich nehme dich beim Wort,
Nenn' Liebster mich, so bin ich neu getauft,
Und will hinfort nicht Romeo mehr sein.«
Der Leser sieht uns, mich auf meinem Balkon, meinen unbekannten Romeo im Schatten verborgen, aber von mir durch einen so unbedeutenden Raum getrennt, daß mir, wenn wir die Hände ausgestreckt hätten, einander hätten berühren können. Ich brauche daher hier nur die Szene bis zu Ende abzuschreiben, und der Leser wird die weitere Inszenierung selbst übernehmen und sich die Gemütsbewegungen denken, welche sie in dem Herzen eines fünfzehnjährigen Mädchens erweckte, welches sozusagen sein doppeltes Debüt in einer berauschenden Poesie und in einer geheimnisvollen Liebe bestand. Ich werde daher die erläuternden Zwischenbemerkungen und die weitere Szene mit den Worten des großen Dichters folgen lassen.
Ich. Wer bist du, der du, von der Nacht beschirmt,
Dich drängst in meines Herzens Rat?
Romeo. Mit Namen
Weiß ich dir nicht zu sagen,
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