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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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Landgemeinde Wohra aus dem 19. Jahrhundert nach Gießen umgesetzt. Alle beteiligten sich an den Kosten: das Land, die Stadt, Vereine und Privatpersonen. Und irgendwann stand dieses Juwel mit Mikhwe, Gemeindehaus und Studentenwohnheim mitten im Herzen Gießens. Ein kleines Wunder, an dem alle mitgewirkt hatten: Regierung wie Opposition, Oberbürgermeister, Dekan, MTA und Bürger.
    Heute stehen sie alle frierend in der Friedhofskapelle und starren auf den in der Alditüte verschwundenen Juden. Die Zeit vergeht. Die Unendlichkeit scheint näher zu rücken. Esgelingt dem Kantor irgendwie, seinen Gebetsschal aus der Tüte zu kramen.
    Es ist kalt, die Füße frieren, die Ansprachen sind passabel. Was versteht man an solchen Tagen schon wirklich?
    Und dann fängt diese Witzfigur von Kantor an zu singen, und es ist, als würde die Seele zum Himmel fliegen. Die meines Vaters, meine, die meiner Schwester, meiner stoischen Mutter und sogar die einiger Christen. Mit offenem Mund hängen sie an dieser Stimme mit Alditüte. Sie erhebt sich über Religion, Politik, über den Schnee, die Neustadt und das Klinikum in Gießen hinweg.
    »Eines sage ich dir«, hatte meine Mutter mehrfach angedroht, »ich erspare mir und dir das Shive sitzen! Ich bin erstens keine polnische Jüdin, für solchen Blödsinn sind wir Jeckes uns zu schade, und überhaupt sitze ich nicht tagelang mit irgendwelchen Russen in der Wohnung rum und höre mir deren Ejtzes an. Ich habe zu tun.«
    Für den »Leichenschmaus« nach der Beerdigung ziehen wir uns also zum Italiener direkt bei der Uniklinik zurück, mein Vater mochte ihn aus unerklärlichen Gründen. Es zieht, italienischer Kitsch hängt an den Wänden, Paolo Conte röhrt vom Band. Hoffentlich überrascht uns das Essen. Ich bin erstaunlicherweise hungrig, in den letzten Tagen habe ich keinen Bissen heruntergebracht. Es ist leer und desolat beim Italiener, mein Vater und seine raumgreifende Präsenz fehlen.
    Unterwegs ist es zu einem Streit zwischen mir und meiner Schwester gekommen. Sie nahm mir übel, dass ich meinen Vater vor der Beerdigung nicht noch im Leichenschauhaus besucht hatte. Ich wollte mich verteidigen und meine Gründe erklären, dachte aber im gleichen Moment, dass ich ihn einfach nicht im Kühlschrank hatte sehen wollen, dass ich Tiefkühlkost verabscheue, ärgerte mich über diese Gedanken,sagte also erst gar nichts und dann: »Koza!« Das hatte mein Vater immer gern zu meiner Mutter gesagt: »Ziege!«
    Mein Cousin Ben ist auch angereist. Mein Lieblingscousin. Ich hatte ihn gebeten, Erde aus Split mitzubringen. Es steht geschrieben, dass man dem Toten Erde aus der Heimat beigeben muss. Die Heimat, das ist natürlich Israel. Ich finde, dass Split viel eher die Heimat meines Vaters war, und so waren alle, Juden wie Nichtjuden, von der Handvoll israelischer Erde, die auf den Sarg fiel, beeindruckt, und Ben und ich hüteten unser Geheimnis.
    Jetzt versucht er die Situation zwischen meiner Schwester und mir zu retten. Er bestellt Unmengen an Essen. Wir essen gierig, schweigen aber beharrlich weiter. Das Gesicht meiner Mutter beginnt sich zu lösen. Das bereitet mir eher Sorgen: Was wird geschehen, wenn sie zu fühlen beginnt?
    Endlich wird es Abend, Zeit, Abschied zu nehmen von meiner Schwester. In weniger als einer Viertelstunde wird der blaue Bus Richtung Zagreb losfahren, und ich werde sie die nächsten Jahre nicht mehr sehen. Es tut mir nicht sonderlich leid, zu meiner Überraschung überkommt mich aber doch so etwas wie Wehmut. Ein Stück Heimat – was auch immer sich hinter diesem Zauberwort verbergen mag – nimmt sie mit sich fort.
    Ich muss an meinen Freund Raffi denken, der behauptet, sein Dilemma habe begonnen, als er seine Heimat verlor, als seine Familie Prag verlassen musste und ins Exil nach Deutschland ging. Das sei die Vertreibung aus dem Paradies gewesen. Zagreb – mein Paradies? Ich habe schon so viele Paradiese und ihre Farben und Gerüche hinter mir gelassen, dass mir das Exil selbst schon unwirklich erscheint.
    An die zehn Kartons stehen am Busbahnhof um meine Schwester herum. Ich verbiete mir, mich zu schämen, und helfe einladen. Hier und da schauen Dinge heraus: der alteArztkittel mit der blassen Aufschrift »Klinikum«, Schlappen aus Abano Terme, ein Brieföffner. Noch zehn Minuten. Sie kramt in ihrer winzigen Handtasche und holt ein Foto heraus. »Schau mal«, sagt sie, »schau es dir genau an! Das habe ich in Papas Zimmer gefunden. Ruf mich bald an, meine Kleine.

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