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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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Ordner gepresst. Ich arbeite hart. Briefe überfliege ich, sortiere nach den Bereichen Beruf, Religion, Politik, Geliebte und halte die aufsteigende Panik im Griff. Der Tod. Er ist tot. Das ist offenbar etwas, das nicht zu ändern ist – nicht einmal von meinem Vater.
    Vier Tage verbringen wir zwei uns fremden Schwestern nah bei unserem Vater und relativ nah beieinander, so nah, wie wir uns eigentlich noch nie waren, inmitten von Bergen von »Müll«. Der Müll ist wirklich ein Problem. Ich meine nicht den normalen, städtischen, weltlichen, sondern den, den wir in diesen vier Tagen zu bewältigen haben. Sosehr ich meinen Vater geliebt habe, so sehr beginne ich ihn zu hassen für die Masse an Müll, die er mir hinterlassen hat. Ich ahne zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass mich bereits wenig später mit dem Tod meiner Mutter ein ungleich größerer Müll erwarten wird. Natürlich war das für meinen Vater kein Müll. Es waren seine Geliebten, es waren seine Erinnerungen, es war sein Leben.
    Wenn ich heute darüber nachdenke, frage ich mich, wie viele Kisten ein Menschenleben ausmachen. Ist das Leben wirklich darin enthalten? Und wie in aller Welt lassen sich Leben konservieren?
    Ganz geheuer schien auch meinem Vater dieser Berg von Unerledigtem und gleichzeitig Abgelegtem nie gewesen zu sein. Immer wieder hatte er mich in den letzten Jahren aufgefordert, vorbeizukommen und mit ihm Ordnung zu machen. Wenn ich dann unternehmungslustig im Türrahmenstand, verließ ihn die Entschlossenheit. Er zog es vor, mir einen Espresso zu machen und über den Krieg zu reden. Es gab immer irgendwo auf dem Erdball aktuelle Kriegsherde, die ihn beschäftigten.
    Er starb und überließ es mir zu entscheiden, ob er ein großes Leben geführt hatte.

[Menü]
    der rabbi in der aldi-tüte
    Dass Beerdigungen häufig zu absurden Ereignissen werden, ist nichts Neues. Die Ratschläge meines Vater und meiner Religion helfen mir nur bedingt, den Tag zu überstehen.
    Zur Beerdigung meines Vaters haben sich an die 500 Menschen auf dem jüdischen Teil des christlichen Friedhofs versammelt. Es ist kalt. Meine pummelige, traurige Schwester trägt zu ihrem kleinen schwarzen Hut einen ebenso kleinen schwarzen Schleier, als wäre sie direkt aus einer Goyazeichnung in die Kapelle gelaufen. Der Gesichtsausdruck meiner Mutter ist versteinert und gleicht verblüffend dem des Genossen Tito.
    Mir ist überhaupt nicht nach Weinen zumute, was auch daran liegen mag, dass mich alle möglichen Leute berühren, mir die Hand schütteln oder mich sogar umarmen. Ich hasse es, wenn man unaufgefordert in meiner Aura herumspaziert.
    Am fröhlichsten wirkt unser Kantor, ein Ersatzrabbiner, ein armer Gelehrter, sicher der peinlichste Rabbiner Europas. Obwohl darüber wahrscheinlich keine Rangliste geführt wird. Er kommt angerannt, zu spät natürlich, muss rasch auf der Schwelle die Zigarette ausdrücken, lehnt seine Aldi-Plastiktüte an den Sarg und verschwindet kopfüber in dieser.
    Sein Kaftan glänzt fettig, die Speisekarte einer ganzen Woche darauf. Ich spüre die entsetzten Blicke der Anwesenden – ich glaube, die meisten Christen werden in ihrem Philosemitismus gerade hart geprüft.
    1978, ich machte gerade das Abitur, stöberte mein Vater eine Handvoll Juden in Gießen auf. Er gründete eine Jüdische Gemeinde und ließ sich noch am selben Abend zum Vorsitzenden wählen. Er beschaffte Räume, eine Thorarolle, war in seinem Eifer nicht mehr zu bremsen. Durch die Einwanderungswelle aus Russland »florierte« die kleine Gemeinde bald.
    Mein Vater involvierte alle und jeden in sein Projekt. Er war grandios im Delegieren und dabei so geschickt, dass kaum einer merkte, wie viel Arbeit er für ihn investierte. Der Dekan der Medizinischen Fakultät wurde nicht nur ein wirklicher Freund, sondern auch ein unentbehrlicher Schatzmeister in der Jüdischen Gemeinde, und genauso freiwillig tippten die geduldige Sekretärin und die verliebte MTA noch nach Dienstschluss komplizierte Gemeindeschreiben für ihn, den kleinen Doktor in Weiß. Er spornte sie an, er hatte sie davon überzeugt, dass sie an Großem beteiligt waren. Meine Mutter, seine Arbeitskollegen an der Uniklinik, der Verein für christlich-jüdische Zusammenarbeit, der Oberbürgermeister. Alle bekamen Aufgaben, Juden wie Nichtjuden. Ganz Gießen eine jüdische Gemeinde. Schließlich bekam Gießen auch wieder eine Synagoge. Unter der Leitung meiner Mutter wurde die verlassene Fachwerksynagoge der kleinen

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