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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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alle würden mitreden. Auch meine Erinnerung arbeitet aufHochtouren. Bilder aus der Vergangenheit sind tückisch, ja perfide. Je mehr man sich entspannt, desto unkontrollierter nehmen sie von einem Besitz. Kaum liege ich, geht’s wieder los:
    Als ich etwa vierzehn war, fand ich in der hintersten Schrankecke eine Blechkiste mit Fotos. Meine Mutter, die nie hochschaute, meistens unerbittlich über ihren Bauzeichnungen hing, hielt inne, als ich ihr die Bilder unter die Nase hielt. Ihr Interesse galt einer Frau auf einem Schwarz-Weiß-Foto.
    Die hab ich sehr gemocht, eine Cousine von uns. Blanka Weinreb. Deine Tante, meine besserwisserische Schwester, tut so, als wäre sie nur ihre Cousine gewesen, aber meine war sie auch. Sie hat sich in London umgebracht. Ich glaube, 1957. Erst war sie mit uns im Lager auf Rab. Dann war sie Hure in Auschwitz. Bildhübsch. Stell dir vor, diese schönen Haare haben sie ihr abrasiert, dafür die Nummer 712834 eintätowiert. Sie hat das Lager überlebt – aber die Schande, die Schande hat sie schließlich umgebracht. Ihre Eltern konnten’s nicht fassen. Aber ich versteh’s irgendwie.
    Ich weiß genau, warum ich keine alten Fotos mag. Geschichten, die nicht einmal im Traum zu verdauen sind.
    Jossi kann nicht schlafen, sich hin- und herwälzend hält er auch seine Frau wach.
    »Was ist, Jossi?! Schlaf!«
    »Ich mach mir Sorgen, Flora. Ich kann dem Moshe die Schulden nicht zurückzahlen.«
    »Schreib ihm das, Jossi! Dann kann er nicht schlafen.«
    So weit ist es schon gekommen, dass ich mir nachts selber Witze erzähle. Ich gebe auf, schaue nach meinen Kindern. Sie schlafen, treten zufrieden ihre Spielsachen aus dem Bett und schlafen weiter. Im dunklen Kinderzimmer hocke ich mich auf den Teppich. Habe ich etwas falsch gemacht in meinem Leben? Alles wahrscheinlich.
    Während der ersten Schwangerschaft habe ich gut 25 Kilozugenommen, war so breit wie hoch. Schon am frühen Morgen holte ich mir bei Möwenpick eine frische Sachertorte, die ich noch auf dem Parkstreifen gierig verschlang. Im alternativen Geburtshaus hatte man mir anhand einer Puppe und der Nachbildung eines Beckens in Plastik demonstriert, wie eine Geburt vonstattengehen würde. Der Puppe fehlte die Nase, dem Becken das Steißbein. Mir war klar: Das Ganze konnte so nicht funktionieren. Wenn ich es nur intensiv genug visualisierte, versicherte man mir, würde es eine glückliche Geburt. Sicherheitshalber visualisierte ich parallel den Kaiserschnitt.
    Ich besuchte Kurse aller Art, lernte auf die verschiedensten Weisen ein- und auf völlig andere auszuatmen. Wurde von meiner Umgebung wie eine schwer Gestörte behandelt. Und wildfremde Menschen legten selig ihre Hände auf meinen zunehmenden Bauch, in der Hoffnung, an dem Wunder in meinem Körper teilhaben zu dürfen. Ich selber fand, dass die Schwangerschaft etwas sehr Schönes war, aber drei Monate für dieses einmalige Erlebnis völlig ausreichten.
    Die Sache zog sich mächtig in die Länge. Hochschwanger besuchte ich alle Premieren und Partys, die ich finden konnte. Schließlich lud man mich nur noch ungern ein, aus Angst, ich könnte im Berliner Zimmer niederkommen.
    Ich war guter Dinge, bis ich bei der Ultraschalluntersuchung feststellte, dass das eine der Kopf, das andere Ding ein Penis war. Hilfe suchend schaute ich zu meinem Mann, aber Georg weinte vor Rührung.
    Eigentlich hatte ich gehofft, davonzukommen. Eine Tochter wäre genau das Richtige gewesen. Dass die Wahrscheinlichkeit bei fünfzig Prozent lag, war mir gar nicht in den Sinn gekommen. Ich war zutiefst schockiert und mein feministischer Freundinnenkreis ebenso. Lange Nachmittage erörterten wir dieses »Männerproblem«. Am schlimmsten aber war: Ich kam um eine wesentliche Entscheidung nicht herum. Ein Mädchen ist ein Mädchen ist ein Mädchen … Einen Jungenaber würde ich nach allen Regeln der Kunst beschneiden lassen müssen. Beschneiden oder nicht beschneiden? Das wurde von nun an die Frage aller Fragen. Meine Eltern hielten sich diskret zurück, das heißt, sie riefen nur jeden zweiten Tag an. Nie, um mich zu fragen, wie es mir ging, sondern ob ich mich endlich zu einer Entscheidung durchgerungen hätte, ob ich zufällig die Nummer des Mohels, des Beschneiders, bräuchte. Sie hätten sie, was für ein Zufall, vor sich liegen. Denn zufällig sei der Frankfurter Beschneider der beste Beschneider überhaupt. Das alles käme natürlich nur infrage, wenn das Kind überhaupt lebendig geboren werden würde.

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