Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Mach’s gut, Zbogom.«
Ich starre dem Bus nach, dann auf das Foto in meiner Hand. Verdammt, der Mann, der mich vom Foto aus anlächelt, sieht aus wie mein Vater, nein, nicht ganz, er sieht aus wie ich. Komisch.
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raffi
Raffi hat zuerst meine Eltern kennengelernt, dann mich. Er arbeitete als Moderator bei einem mittelmäßigen Münchner Fernsehsender, ein Job, den ihm sein Vater besorgt hatte, ihm gehörten Anteile. Raffi verabscheute seine Arbeit, fühlte sich permanent unterfordert, von seinen politischen Ambitionen ganz zu schweigen. Die Alternative wäre gewesen, den Jeansladen zu übernehmen, den sein Onkel am Rosenheimer Platz führte. Undenkbar. In den Sommermonaten, in denen er aushelfen musste, litt er wechselweise an Magenproblemen und Depressionen.
Man hatte ihn dazu verdonnert, eine Biolek-Sendung für den Abend abzunehmen, dabei war ich ihm auf dem Bildschirm über den Weg gelaufen. Er ließ sich beim Sender meinen Namen geben, rief die Auskunft an und landete bei meinen Eltern. Meine Mutter war entzückt: ein Jude, der nach mir suchte! Noch wichtiger: ein lediger Jude! Das Einzige, was er ohne Zögern mit Ja beantworten konnte. Meine Mutter gab ihm glücklich meine Mobilnummer, es dauerte keine zehn Minuten, und ich hatte ihn am Apparat. Als ich zwei Wochen später in München zu tun hatte, lud er mich ins Maon ein, das koscherste und schlecht gelaunteste jüdische Lokal Europas. Wir amüsierten uns prächtig, ohne eine Sekunde miteinander zu flirten. Seitdem trafen wir uns häufig, mal in München, mal in Berlin, bis er eines Tages mitsamt seinem Sender ganz in die Metropole zog.
Mittlerweile essen wir regelmäßig zu Mittag, wenn unsere empfindlichen Mägen es erlauben.
Raffi wäre mein Partner in der »Schul«, wenn wir in eine gingen. Wir würden uns dort über die Unterschiede zwischen dem Babylonischen und dem Jerusalemer Talmud bis aufs Blut streiten, stattdessen diskutieren wir im Restaurant über die Qualität des Wiener Schnitzels.
Auch ohne Talmud schafft es Raffi oft, mich zur Weißglut zu bringen. Doch inzwischen ist unser Verhältnis wie das von Geschwistern: gottergeben. Wir sind uns zu ähnlich, das wirkt sich unerotisch aus, jedenfalls auf mich. Am meisten bedauert meine Mutter diese Wendung der Dinge und mochte über unsere gemeinsame Postkarte »Liebe vergeht, Freundschaft besteht« gar nicht lachen.
Inzwischen behauptet Raffi, nur mit einer Jüdin glücklich werden zu können (mich meint er damit nicht!). Er findet in seinem neuen Kiez in Berlin seltsamerweise überproportional viele attraktive Jüdinnen. Es muss so etwas wie ein jüdisches Biotop sein. Mit einigen hat er leidenschaftliche Affären, die, mal schneller, mal langsamer, alle im Desaster enden.
Ich dagegen habe mich auf nichtjüdische Verhältnisse spezialisiert. Meinen Mann Georg betrachtet Raffi mit wachsendem Interesse. Er scheint zu denken: Wie hält es dieser ruhige, kluge Mann mit einer solchen Neurotikerin aus? Oder: Was will diese spritzige Frau von einem derartigen Langweiler? Zu mir direkt sagt er immer nur: Doch, doch ich mag ihn, er ist nett, irgendwie. Er selbst allerdings ist auch nicht 100 % koscher: Er hat ein Kind mit einer Nichtjüdin, aber darüber spricht er sehr ungern …
An meinem letzten Geburtstag haben wir eine idiotische Abmachung getroffen: Er würde weiter bei seinen Jüdinnen bleiben, ich bei meinem Deutschen. Eine Art Versuchsanordnung, ein Selbstversuch über drei Jahre. Von Zeit zu Zeit würden wir vergleichen, wer glücklicher ist. Notfalls könnten wirnach diesem Experiment immer noch zusammenkommen und viele neurotische, jüdische Kinder zeugen.
Das war schon bei meinen Eltern ein Lieblingsthema:
»Wenn du uns keinen Juden heiratest, können wir dir nicht in Ruhe sterben.« (Meine Mutter)
»Na wunderbar, dann lebt ihr noch ein Weilchen.« (Ich)
Einer der Standarddialoge bei uns zu Hause.
Meine Männer waren groß, blond, blauäugig. Hießen Dieter, Uwe, Heinz oder Jens. Jens war Karate-Europameister, wog 120 kg auf 2,04 m Länge.
»Gehst du jetzt nach Gewicht?«, war der einzige Kommentar meiner Mutter.
Ja, ich ging nach Größe, Gewicht und irgendwie nach Augenfarbe. Gemeinsam hatten alle, dass sie »arisch« waren durch und durch. Aber auch sie pickten mich unter vielen heraus. Ob im ICE -Speisewagen oder im Jazzclub, ich ging nie mit leeren Händen nach Hause. Manche hatten Überbiss, andere waren studiert. Es gab Stuckateure und CDU -Wähler.
»Warum
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