Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Feingefühl war nie ihre Spezialität gewesen. Würde ich beschneiden, wäre das ein offenes Bekenntnis zu einer Religion, deren Ausübung ich bisher auf die hohen Feiertage beschränkt hatte. Würde ich nicht beschneiden, müsste es mein Sohn später selber tun … als Erwachsener. Ja, ich könnte ihm die Entscheidung in die Schuhe schieben …
»Du mogelst!«, gab Georg zu bedenken. »Du drückst dich vor der Entscheidung! Später? Der arme Kerl soll sich später entscheiden? Enorm selbstbestimmt und extrem schmerzhaft.«
Er hatte recht, wie so oft, aber das zeigte ich ihm nicht allzu deutlich.
Und so drängelten sich an einem eiskalten Dezembertag 120 Gäste in unserer Wohnung um den Mohel, der aussah, als sei er soeben aus dem Stetl gekommen. Seine Pajsen lockten sich perfekt. Er murmelte und sang, dass es eine Freude war.
Mein Vater hielt eine seiner berühmten Reden: Eine Rede muss einen imposanten Anfang haben, kurz in der Mitte sein, furios der Schluss! Doch keiner war in der Lage, ihm zuzuhören, zu spannend entwickelte sich die Sache mit dem Beschneidungsmesser. Dann übergab mein Vater – ganz nach der Tradition – meinem Freund Aron, dem Paten, das Kind,und Aron legte sich das kleine Ding, David, unseren Erstgeborenen, auf seine Knie. Der Mohel näherte sich mit seiner winzigen Guillotine.
Alle waren gekommen, um dem jüdischen Massaker beizuwohnen. Vorne standen die Neugierigen, unter ihnen ein Chirurg, um der altertümlichen Praxis zuzusehen. Weiter hinten die etwas Scheuen und Vorsichtigen. Und ganz weit hinten die Nörgler und Kritiker. Sie formulierten und schürten lautstark ihre und meine Ängste. »Weißt du, was du da tust? Du beschneidest, wie die Frauen in Afrika beschnitten werden! – Willst du die Natur korrigieren?«
»Er wird später kaum etwas fühlen!«, gaben meine schwulen Freunde zum Besten.
»Wenn Gott die Vorhaut nicht gewollt hätte, hätte er sie gleich weggelassen. Hier das Jahresbuch der Christengemeinde, da kannst du noch eine Menge von lernen«, sagte meine Yogalehrerin. Ich kannte eindeutig zu viele Christen.
»Warum seid ihr gekommen und nicht zu Hause geblieben?« Ich war außer mir. »Juden sind für euch interessante und nette Freunde, solange sie Opfer sind. Als Leute mit eigener Tradition, womöglich selbstbewusst, sind sie plötzlich nicht mehr so nett. Unsere Rituale findet ihr eklig. Ich sag euch, was ich eklig finde, euch und eure Doppelmoral. Wenn einem übel sein darf, dann mir!«
Während mein Vater glücklich an vorderster Front mitsang, hielt sich meine Mutter dezent zurück. Sie hatte das Büfett bezahlt, an dem sie sich bereits großzügig bediente. Ab und zu raunte sie mir zu. »Stell dich nicht so an, du bist nicht die Erste.« Ihre Brille war beschlagen, ob sie heulte? Niemals hätte sie sich die Blöße gegeben, in der Öffentlichkeit zu weinen. Meine Therapeutin bot ihr ein Taschentuch an, worauf meine Mutter sofort den Raum verließ, nicht ohne mir vorher zuzuzischen: »Was hast du ihr alles über mich erzählt?«
Man hatte mich in die Küche gebracht. Das Wehklagenmeines Sohnes war aus der Ferne zu hören. Ich jammerte und war wütend. Jüdische Mütter trösteten mich (nur meine eigene nicht), indem sie sich überboten in ihren Beschreibungen anderer Beschneidungen, speziell dessen, was dort alles schiefgegangen war. Aber natürlich nicht immer! Meistens würde es gut gehen. Ich könne mich freuen: wie hübsch der Schmock nach der Beschneidung sei! Die Frau des Mohels drückte mich an ihren gewaltigen Busen, tröstete mich mit einem uralten Lied, und ich vergaß dieses Jahrhundert.
Bei der Beschneidung meines zweiten Sohnes war ich schon souveräner, auf die Einladung schrieb ich: »Nur für Christen mit starken Nerven, die anderen bitte in die Kirche gehen.«
Noch immer hocke ich auf dem Kinderzimmerboden, wacher denn je … Mein Großer seufzt, schläft den Schlaf des gerechten Fußballers, während der Kleine im Schlaf redet. Die Milch ist kalt und hat inzwischen eine Haut angesetzt, der Turm des Rathauses Schöneberg zeigt halb fünf. Wenn ich jetzt Tarotkarten lege, werden sie mir sagen, was ich in meinem Leben alles hätte anders machen sollen. Dann gibt’s keinen Schlaf mehr bis zum Jüngsten Gericht.
Mein Mann ist von bemerkenswertem Stoizismus, im Allgemeinen und im Besonderen. Bei den Diskussionen um die Beschneidung zum Beispiel sagte er recht früh: »Beschneiden!«, und blieb dabei. Meine Stimmungswechsel beeindruckten
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