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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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alles, nur keine Juden?«, insistierte meine Mutter.
    »Mama, was ist denn daran so verwunderlich? Schon prozentual gesehen ist die Auswahl an deutschen Liebhabern ungleich größer als an jüdischen.« Ich ahnte, dass das nicht der einzige Grund sein konnte. Etwas hielt mich davon ab, jemanden zu lieben, der dieselben Empfindlichkeiten und Neurosen hatte wie ich. Dessen Vergangenheit ihn mehr beschäftigte als die Gegenwart, der eine Familie hatte, die sich in alles einmischte und bei allem mitredete.
    Georg war geblieben. Wahrscheinlich war er der Einzige, der mich aushielt. Auch ein Auswahlkriterium.
    Heute hat Raffi besonders schlechte Laune. Ich weiß nicht, ob es an den Geliebten liegt oder ob ihm das Wetter zu schaffenmacht. Ich habe Augenringe, die Beerdigung hat Spuren hinterlassen. Wir sitzen in Berlin-Mitte in einem dieser modernen Cafés. Es zieht wie Hechtsuppe.
    »Es liegt an den vielen Toten in dieser Stadt«, sagt er. »Also, nicht an den Toten von heute. Die von damals, ist ja klar. Man entkommt ihnen nicht, alles ist morbide. In München ist es besser, und Mittagessen kann man hier auch nicht richtig.«
    Ich weiß, was er meint.
    Mein rechtes Auge ist seit gestern geschwollen – Hausstauballergie. Ich sollte einfach nie wieder putzen oder aufräumen. Wir sind zwei Elendshaufen.
    Es regnet. Eigentlich möchte ich Raffi das Foto zeigen, das meine Schwester mir gegeben hat, aber ich traue mich nicht.
    Wir stochern lustlos im Essen herum. Raffi versucht, sich an einen Witz zu erinnern: »Warum hast du deine Frau nicht mitgenommen? – Tja, es gibt viele Gründe …«, weiter weiß er nicht. Er fängt dreimal vergeblich von vorne an. Das ist öde.
    »Ach«, fällt ihm ein, »erstens, sie war nicht eingeladen …«
    »Den kenne ich schon«, sage ich, »aber mit Glocken. ›Warum läuten die Glocken nicht, wenn ich komme?‹, fragt der Minister, als er zu Besuch kommt. ›Es gibt viele Gründe‹, antwortet ihm der Bürgermeister. ›Erstens: Wir haben keine.‹«
    Der Witz ist eigentlich gar nicht so schlecht.
    Ich bestelle uns einen Grappa, was wir selten tun, aber angesichts der Stimmungslage angebracht ist. Statt das Foto herauszuholen, plappere ich drauflos, von Dingen, die er schon kennt, unserer Wohnungsodyssee beispielsweise. Einer meiner Dauerbrenner.
    Eine Weile hatten Georg und ich alle Möbel bei Zapf im Container eingelagert. Zwei Jahre wohnten wir bei verschiedenen Freunden. Wir hatten davor in Kreuzberg gewohnt,und irgendwann, als unsere Wohnung zu Eigentum umgewandelt wurde, begann eine regelrechte Odyssee. Wir sahen uns Hunderte von Wohnungen an, in allen möglichen Stadtteilen. Meine Eltern pochten auf Eigentum, das machte die Sache nicht leichter. Von Weißensee über Kleinmachnow, von Schmargendorf bis Neukölln. Mal unter dem Dach, dann wieder in einem Einfamilienhaus. Ich konnte mir alles vorstellen und malte mir die diversen Lebensstile so lebendig aus, dass mir allein das schon genügte. Es war mir sogar lieber, als sie wirklich auszuprobieren. Und so suchte ich munter weiter. Ankommen war gleichbedeutend mit Stillstand, Tod. Das hat kulturgeschichtliche Gründe, natürlich. Irgendwann verlangte Georg, ich solle mich entscheiden. Die Kinder würden sich endlich ein eigenes Bett wünschen. Wir fanden eine schöne Etage in einer Villa in Wilmersdorf. Es schien abgemacht. Die Villa war von 1938, ein Wehrmachtsoffizier hatte sie bauen lassen.
    »Ich hörte seine Schritte im Flur. Ich hörte ihn reden. Wie kann man in ein Haus einziehen, das noch 1938 gebaut wurde? Das kann nur ein Verbrecher gebaut haben, verstehst du? Da konnte ich nicht einziehen! Unmöglich!«, erzähle ich Raffi.
    Wir unterschrieben nicht. Wenig später in einer Wohnung am Bayrischen Platz schien es mir, als sei sie noch bewohnt.
    »Eine Frau geisterte darin herum, eine, die sich versteckte, eine nicht Deportierte. Man hatte sie vergessen. Da kann man doch auch nicht einziehen«, flüstere ich.
    »Ich verstehe«, sagt Raffi.
    Wir haben’s nicht leicht.
    Wir schweigen und hören dem Regen zu.
    »Irgendwann haben wir dann unsere neutrale, nahezu geschichtslose Altbauwohnung in Schöneberg gefunden.«
    »Eine Altbauwohnung ist nie geschichtslos«, sagt Raffi. Wir schweigen wieder.
    »Ja, meine Wohnung jetzt ist ganz schön«, unterbreche ich ungefragt die Stille, »sie scheint keine Geister zu beherbergen. Aber sie hat auch keinen Garten …«
    »Hast du im vierten Stock einen Garten erwartet? Du wohnst eben im

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