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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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irgendwo Kinder geben.
    Der Mann auf dem Foto ist mein Bruder. Vielleicht nicht einmal der Einzige.
    Ist es das, was mir mein Vater am Ende noch sagen wollte? Dass er noch weitere Kinder und den Überblick verloren habe, wie viele, aber wenn ich gerade mal nichts zu tun hätte, könnte ich ja ein wenig durch Europa reisen, um ihnen zu sagen, dass ihr Vater gestorben sei?
    Ich werde mich jetzt hinlegen und nie wieder aufwachen.

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    die bestickte bluse aus bjelovar
    Meine Karriere im deutschen Fernsehen hat mit zwanzig und mit einer bestickten Bluse begonnen. Ich war noch auf der Schauspielschule. Eigentlich war es eine Bluse von meiner Großmutter aus Bjelovar, und ich wünschte, sie hätte sie dort gelassen. Ich spielte in ihr alle folkloristischen Rollen südlich des Mains rauf und runter. Ich spielte die Türkin, die Serbin, die Kroatin, die Griechin, die Russin, die Sizilianerin – wen auch immer. Fast immer putzte ich. Ich putzte derart viel im deutschen Fernsehen, dass ich inzwischen eine fette Stauballergie habe, die unkurierbar scheint.
    Die Rollen, die man mir gab, hatten weder Vor- noch Zunamen, ich war »das Opfer«, war kriminell, asozial, hatte zu viele Kinder und finanzielle Sorgen.
    Ich schämte mich. Man zog mich an wie soeben emigriert, ungeachtet dessen, ob der Film in der Jetzt-Zeit spielte. Mir kam es vor, als ginge es nicht um Genauigkeit, sondern darum, die »Migranten« kleinzuhalten, um selbst groß und schön zu wirken. Irgendwann weigerte ich mich, weiter den Underdog zu geben. Die »Herrenmenschen« mussten allein mit ihren Serien und ihrem Staub fertig werden. Und dennoch: Ich war und blieb ein Gastarbeiter.
    Vier Jahre lang habe ich Schauspiel an der Hochschule der Künste in Berlin studiert. Als ich anfing, war ich 19 und weniger an Brecht als am Berliner Nachtleben interessiert. DieKunst der Verkleidung beherrschten die Transen besser als jede Theaterperformance. Es war überall aufregender als im Schauspielunterricht, so lernte ich im Unterricht nicht allzu viel Neues während dieser müden vier Jahre. Als das abschließende Intendantenvorsprechen begann, bescheinigte man mir, ich sei »zu ausländisch für das deutsche Theater«. Der Erste, der das klar erkannte, war Heribert, ein Froschgesicht aus Österreich. Ich dachte mir: Und selbst? Und flog beleidigt nach New York.
    Oft frage ich mich, ob ich in den goldenen 20er-Jahren besser dran gewesen wäre. Als namhafte Juden Regie führten. Wäre ich für sie mehr gewesen als eine Ausländerin? In New York sahen alle »ausländisch« aus, manche mehr, manche weniger. HIV war erst am Anfang, und die Performance-Szene auf dem Höhepunkt. Ich tobte mich gründlich aus.
    Zurück in Berlin, schloss ich mich einer freien Gruppe an, dem »Theater zum westlichen Stadthirschen«. Wir versorgten die Berliner Enklave mit kapriziösen, selbst geschriebenen Performances aller Art. Nach fast zehn Jahren wiederholten wir uns in unseren Mitteln und im Inhalt, es wurde fade. An einem Herbstabend im November fiel die Mauer, und das alte Westberlin hatte sich erledigt. Ich schloss mich der allgemeinen Identitätssuche an, verließ die freie Gruppe. Meine Suche drehte sich jedoch weniger um Ost/West als um das große Feld der Jüdischkeit. Ihren Höhepunkt erreichte diese Identitätssuche im Urlaub mit Georg auf einer griechischen Insel.
    Das Schiff legt an, aber ich kann kein Hotel suchen, denn ich weiß, dass zu Hause etwas Schreckliches passiert ist. Ich lasse mich und mein Gepäck fallen.
    Mobiltelefone sind noch in weiter Ferne, aber ich muss dringend telefonieren!
    »Bitte, Adriana, muss das jetzt sein? Steh auf, lass uns ein Hotel finden, bevor es dunkel wird – und dann ein Telefon suchen.«
    Ich höre ihn nur von ferne.
    »Ich brauche ein Telefon, bitte!«
    »Hier auf der Mole?? Wo soll ich hier eins finden? Siehst du vielleicht eins?«
    »Frag einen Einheimischen!«
    »Ich?«
    »Ja du, ich kann nicht.«
    »Wie, du kannst nicht?«
    »Ich bin zu traurig.«
    »Ist das dein Ernst?«
    Georg schaltet einen Gang tiefer. »Okay. Gut. Was ist passiert?«
    »Irgendwas. Ich weiß es auch nicht genau, sonst müsste ich ja nicht telefonieren. Vielleicht … vielleicht sind sie ja tot. Beide.«
    »Deine Eltern? Du meinst deine Eltern?«
    »Alle! Meine Tante auch, alle tot, vergiftet, ein Unfall, ausgerutscht, wer weiß das schon? Peng! Nicht mehr da. Und die drei Wochen Insel hier … Sie werden vor sich hinmodern, niemand wird etwas merken. Ich werde

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