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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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ihn nicht im Geringsten.
    Georg schnarcht. Man könnte meinen, ein ICE fahre durch die Wohnung. Das führt häufig zu nächtlichen Querelen, ist aber summa summarum seine schlimmste Eigenschaft. Ach ja: Er ist kein Jude. Ja, es hätte schlimmer kommen können.
    Es brauchte Jahre, bis sich meine Eltern daran gewöhnt hatten, dass ein Deutscher Familienmitglied werden sollte. Sie nannten ihn mit jüdischer Überheblichkeit immer Hans,behaupteten jedes Mal, sie könnten sich seinen Namen nicht merken. Es war peinlich. Georg ertrug es mit westfälischem Phlegma. Irgendwann, eher aus Versehen, akzeptierten sie ihn. Meine Mutter wegen seiner Intelligenz und weil er Sütterlin lesen konnte, mein Vater seiner Musikalität wegen. Die Fotografien für die jüdische Verwandtschaft, auf denen meine Söhne recht blond lächelten, wurden dennoch regelmäßig nachgedunkelt.
    Georg ist ein etwas autistischer Westfale mit dem dort üblichen riesigen Schädel. Auch die Kühe dort haben größere Köpfe als anderswo. Sein Kopf ist groß und voll bis obenhin, das hat uns bisher jedes Lexikon erspart. Er hat enorm viel Humor, was in unserem Fall wohl das Allernotwendigste ist. Ich glaube inzwischen, dass es nur zwei Kategorien von Menschen gibt: die mit und die ohne Humor. Der Umgang mit denen ohne Humor ist weitaus komplizierter und unerfreulicher, als das Leben ohnehin schon ist.
    Als Nichtjude zu einem jüdischen Haushalt zu gehören, ist, glaube ich, ein durchaus ambivalentes Vergnügen. Die weltweit gerühmten Qualitäten bzw. Vorurteile wie Schnelligkeit, Witz, Reichtum halten sich in Grenzen. Dafür bekommt man ein Riesengepäck an Familie, Erinnerung, Entscheidungsnot, Hypochondrie und alle Arten sonstiger Neurosen mit. Ganz zu schweigen davon, dass die Wohnräume immer überheizt sind. Ich bin mir sicher, dass Nichtjuden ebenso viele Neurosen und schlechte Eigenschaften haben, nur eben andere. Ohne Humor hätte dieser stoische Germane die chaotischen Synagogenbesuche, die endlosen Pessachfeiern und vor allem die missglückten Beerdigungen nicht verkraftet. So viel ist sicher.
    Die Rathausuhr zeigt fünf Uhr an. Als ich ihn jetzt wecke, hält sich sein Humor in Grenzen. Ich fuchtele mit dem Foto, das mir meine Schwester gegeben hat, vor seiner Nase herum.
    »Wach auf! Schau mal! Wach auf! Schau dir dieses Foto an. Ich weiß, wem es ähnlich sieht. Siehst du’s auch? Sag! Wach schon auf!«
    Georg ist ungehalten. Wahrscheinlich würde er am liebsten mit einer dieser westfälischen Eichen auf mich losgehen.
    »Mach wenigstens das Licht an!«, knurrt er. Brav knipse ich alle Lampen an. Es ist hell wie auf dem Reichssportfeld.
    »Na?«
    »Keine Ahnung!«
    »Schau doch!«
    »Das Foto ist winzig, es ist fünf Uhr morgens!«
    »Du erkennst doch da im Hintergrund die Kathedrale in Zagreb? Und der Mann, der davorsteht? Na? Egal, hör zu, ich sage es dir!«
    Er schläft schon wieder, und sein Schnarchen verbreitet erneut Ruhe und Frieden. Diesmal klingt es eher wie ein Dieselmotor. Ich starre auf das Bild, auf den Mann, der zurückzustarren scheint. Ja. Das bin ich. Oder fast. Wir sehen uns erschreckend ähnlich.
    Marco sollte ich heißen. Meine Mutter hatte mir zehn Tage lang keinen Namen geben wollen oder können, und überhaupt sei ihr nur immer wieder der Name Marco eingefallen. Soweit ich mich zurückerinnern kann, wäre ich auch lieber ein Junge geworden. In meiner Wrangler-Jeans, mit der Angela-Davis-Frisur, sah ich sowieso wie ein Kerl aus. Einer der Jackson Five, das war meine ewig dauernde Pubertät. Jungs genossen eine weitaus größere Autonomie, konnten immer und überall Sport machen und in versifften Klamotten Eindruck schinden. Na ja, das Übliche eben. Wahrscheinlich mache ich deshalb so gerne Kampfsport: Es gibt keine Entscheidungsnot, was man anziehen muss, und man kann sich vornehm und nach Regeln prügeln. Meine jeweiligen Freunde mussten mich zunächst im Flipper und Tischfußball schlagen, bevor es ans Küssen gehen konnte. Aber das ist schon lange her.
    Immer, immer habe ich mir einen Bruder gewünscht. Einen, der meinen Eltern Einhalt gebieten würde in ihrer Selbstbezogenheit. Einen, der mit mir die »Spätfolgen des Holocaust« einfach ignoriert. Er hätte Marco heißen können, warum nicht? Er wäre nie und nimmer in Zagreb geblieben wie meine Schwester, sondern hätte sich mit mir das Exil geteilt.
    Natürlich.
    Ich hätte es wissen müssen: Wenn man so viele Geliebte hatte wie mein Vater, muss es auch noch

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