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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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falschen Stadtteil«, murmelt Raffi.
    Wir schweigen beseelt weiter.
    Wenn Raffi nicht nervt, kann er ausgesprochen charmant sein. Das kommt vor, hält allerdings nie lange an.
    »Warum trägst du eigentlich nie Jeans?«, fragt er unvermittelt.
    »Weil sie mir nicht stehen.«
    »Es gibt für jeden die passende Jeans!«, doziert er plötzlich, als wäre er doch im Laden seines Onkels gelandet, würde mit Hingabe Jeans verkaufen und ich drohte, seine Verkaufszahlen zu ruinieren.
    »Raffi, hör mal …«, versuche ich dazwischenzugehen.
    »Es gibt Jeans, die erinnern einen an die Pubertät, und andere, die machen sie einen vergessen.«
    »Raffi, hör auf mit deinen dämlichen Jeans.«
    »Hast du deine Tage?«, grinst er.
    Nein, er ist heute nicht charmant, nicht einmal geistreich.
    Dann rücke ich doch damit heraus.Viel zu hastig, um gelassen zu wirken: »Raffi, findest du mich männlich? Ich meine, kannst du dir mich als Mann vorstellen? Also, wenn ich ein Mann wäre, wie würde ich dann aussehen?«
    Schließlich lege ich ihm das Foto neben die Serviette und sehe, wie das Grinsen aus seinem Gesicht verschwindet und er ganz langsam blass wird. Der gute Raffi. Er sagt klugerweise gar nichts. Raffi weiß eben, wann er reden und wann er schweigen muss.

[Menü]
    das jüdische massaker
    Die Beerdigung deines Großvaters hatte dann schon die absurd grotesken Züge der neuen Ära. Da fährt der Leichenwagen mit dem Sarg dahin, durch halb Zagreb, und die Familie rennt hinterher, denn Juden dürfen keine Autos mehr fahren, auch in Bussen sind sie nicht mehr erwünscht. Diese Schmach, in Trauerkleidung hinter dem Sarg herzulaufen, durch die halbe Stadt, alle schauen zu, und ihn nicht einholen zu können. Deine Großmutter ist über Nacht weiß geworden. Schneeweiß. Schneeweiß.
    Unter »Dibbuk« finde ich in irgendeinem meiner Lexika zur jüdischen Problematik: »Dibbuk, auch mit y geschrieben, ist die Seele eines Toten, die in einen Lebenden schlüpft, um vor den Verfolgungen böser Geister Ruhe zu finden, selbst auch ruach , böser Geist genannt, wodurch der Betreffende selbst wie besessen erscheint. Läßt sich nur durch einen Wundertäter, besonders einen Baal Schem vertreiben.«
    Bemerkenswert finde ich, dass man weder im Jenseits noch im Diesseits Ruhe hat vor Geistern – bemerkenswert, aber nicht besonders tröstlich!
    Für Isaac Bashevis Singer jedenfalls sind diese Geister die besten Gesprächspartner. Er führt lange, interessante Diskussionen mit ihnen. Na prima. Ich bin in bester Gesellschaft.
    Ob ich diesen Baal Schem wohl in der Gemeinde auftreiben kann? Hoffnungsvoll mache ich mich auf den Weg.
    Die Bücher über die Kabbala stehen verschlossen in derGemeindebibliothek. Bittet man um ihre Herausgabe, wird einem mitgeteilt: Sie seien nur für Eingeweihte und über 40-Jährige, man laufe Gefahr, verrückt zu werden. Ich versichere, beides zu sein, dann darf ich kurz in den alten Werken stöbern.
    Ich bin die stolze Besitzerin mehrerer Dibbuks, ruheloser Toter, die mir Gesellschaft leisten, nicht erst, seitdem mein Vater tot ist, nein, eigentlich schon immer. Wo bitte finde ich jetzt diesen Dibbukvertreiber? Ausführlich lese ich über die Erscheinungsformen verschiedener Dibbuks, von ihrem Elend, ihrer Not. Wenig aber über die Not derer, bei denen sie es sich gemütlich gemacht haben. Bei mir scheinen sie sich besonders wohlzufühlen. Sie suchen meine Nähe, am liebsten nachts, wenn ich versuche zu schlafen. Das nenne ich ausgleichende Gerechtigkeit: die Seelen der Toten, die keine Ruhe finden, bringen darum die Seelen der Lebenden um ihren Schlaf. Vielleicht fliegt die Seele meines Vaters unruhig herum, weil es im Himmel keinen Espresso gibt.
    Wenn ich tot bin, werde ich Dibbuk und räche mich an all denjenigen, mit denen ich zu Lebzeiten nicht fertig geworden bin!
    Wenn man nachts nicht schlafen kann, hilft lauwarme Milch, das weiß jeder. Es ist zwanzig nach drei. Zuerst stolpere ich über die Lego-Burg, die mein kleiner Sohn Sammy vor dem Kühlschrank aufgebaut hat, dann verbrenne ich mich am Herd. Ich höre meinen Mann aus dem Schlafzimmer schnarchen, selig und regelmäßig. Wenigstens darauf ist Verlass. Ich trinke die warme Milch, mir wird leicht übel, und ich kann erst recht nicht schlafen. Erstens habe ich geträumt, dass mir mein Vater im Pyjama Vorträge hält, und außerdem plagen mich Gedanken. Es sind keine wirklichen Gedanken, es ist eher so, als wäre das Schlafzimmer von ihnen bevölkert und

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