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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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sie finden, stinkend wie Hühnerfleisch, eingefallen, von Ratten angenagt.«
    »Okay. Ich habe verstanden. Beruhige dich.«
    »Das verstehst du nicht, das kannst du nicht verstehen. Du bist ein Goy …«
    »Sonst noch was?«
    »Katholik. Du verstehst das nicht!«
    »Noch mal von vorne. Wann hast du sie das letzte Mal gesprochen? Hallo? Warum sollten sie tot sein?«
    »Warum nicht?«
    »Nenn mir einen Grund, warum sie tot sein sollten. Was soll denn passiert sein? – Siehst du – du hast keinen.«
    »Sie sind nicht in Majdanek gestorben – sie tun es jetzt, wenn wir sie verlassen.«
    »Nein, nicht das schon wieder!«
    »Ich will nach Hause!«
    »Bist du verrückt!? Wir sind gerade mal 34 Minuten hier.«
    »Ich kann hier nicht schlafen. Ich kann überhaupt nirgendwo und nie mehr schlafen. – Ich will Totenwache halten.«
    Langsam spüre ich: Jetzt wird es Georg zu bunt. Aber was weiß er schon?
    »Lass. Uns. Zuerst. Ein. Hotel. Finden. Bevor. Es. Dunkel. Ist. Dort. Wird. Ein. Telefon. Sein.« Er spricht deutlich und gefasst, als würde er gleichzeitig Eisenspäne zerkauen und mit einer Behinderten reden. »Kannst ja hierbleiben!« Er setzt sich in Bewegung.
    Ich renne hinter ihm her – um wieder in Hörweite zu kommen.
    »Warte, du Idiot!« Meine Wut wird allmählich stärker als meine Verzweiflung.
    Die nächste Hotel-Rezeption ist meine. Ein Telefon steht auf dem Tresen.
    »Hallo? Hallo? Ach, Gott sei Dank, ihr … na, ich dachte schon, ihr seid … ach nichts … was? Ich? Na, in Griechenland – habe ich doch gesagt … natürlich habe ich das gesagt … was? Mit Georg … wieso mit dem? Warum denn nicht? Es kann doch nicht jeder Jude sein … also hört mal, ich rufe vom Ende der Welt an und ihr …«
    Aufgelegt. Sie haben aufgelegt. Sie leben beide, alle, und sind … wie immer!
    Sehe ich da in Georgs Gesicht nicht ein schadenfrohes Grinsen?
    »Bin ich zu verrückt für eine Therapie oder nicht irre genug?«, fragte ich besorgt die Therapeutin, die ich nach diesem Urlaub aufsuchte. Streng schaute sie mich eine Ewigkeit an, um schließlich ihr Urteil zu fällen: »Das wird dauern.«
    Sie gab mir die Adresse eines Psychologenteams aus Holland, das in Berlin ein Wochenendseminar veranstaltete. Ihr Spezialgebiet waren Kinder und Kindeskinder von Überlebenden. Wir waren eine Gruppe von circa fünfzig Leuten, zwanzig bis fünfzig Jahre alt. Manche waren noch im Krieg geboren, andere erst in den Sechzigerjahren. Alle waren Kinder von Überlebenden. Wir waren am Wannsee einquartiert, nicht weit von der Villa, in der die Endlösung beschlossen worden war. Hier sollten wir Ruhe und Zeit finden, uns unserer Vergangenheit zu stellen.
    An jenem Wochenende passierte etwas für mich damals noch sehr Überraschendes: Wir nahmen exakt die Rollen unserer Eltern an. Die, deren Eltern im Lager gewesen waren, den unendlichen Demütigungen ausgesetzt, begannen sich zu ducken, zu verstecken, ausweichende Antworten zu geben, sich tot zu stellen. Bei den anderen, den Kindern der Widerstandskämpfer und Partisanen: erneuter Widerstand. Es war so banal wie eindeutig.
    Raoul erzählte, dass sein Vater ihn und seinen Bruder Roman an die Heizung band und mit dem Gürtel verprügelte, wie es damals die Wachen in Majdanek mit ihm getan hatten. Er reagiere bis heute mit extremer Überempfindlichkeit auf Berührung und Lärm. Sein Bruder dagegen stelle sich tot, fühle nichts mehr, weder Berührung noch Emotionen. Raoul hatte viele Therapien gemacht, aber immer wieder holte ihn der Schrecken des Holocaust ein. Ein Schrecken, den er selbst nie erlebt hatte, den er aber sein Leben lang unfreiwillig aufgesogen hatte. In mehr oder weniger homöopathischen Dosen.
    Und dann gab es André, dessen Vater Auschwitz überlebt hatte. Er lief immer im Anzug herum, hielt seine Wohnung so pedantisch sauber und ordentlich, dass es den Anschein erweckte, sie sei gar nicht bewohnt. Kein Schmutz, keine Willkür durfte sich in seiner Nähe ausbreiten. Er machte »alles richtig«, kontrollierte, wenigstens äußerlich, sein Leben. Nie würde er den Dreck von Auschwitz bei sich zulassen.
    Ich dachte an Raffi und seine »Depressionen«. Raffi hat wenig Grund, unglücklich zu sein. Seine hübsche 3-Zimmer-Wohnung liegt sehr hip im Herzen von Prenzlauer Berg, er wird gut für seine Moderationen und Reportagen bezahlt, und obgleich er bereits über eine ziemliche Glatze verfügt, scheint das hübsche, junge Frauen nicht daran zu hindern, ein Verhältnis

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