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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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großen Trauer wird ihr zu Ehren sein, irgendwie. Alle sind sehr freundlich, sprechen mir ihr Beileid aus, zwei, drei Tage lang, dann beginnt übergangslos die Hölle.
    Das Stück beschäftigt sich mit dem bundesrepublikanischen Trauerritual, dem kurz vor der Einweihung stehenden Holocaustmahnmal und mit dessen Betreiberin, der »Neigungsjüdin« Lea Rosh. Das Volk wird zum Trauern verdonnert. Termingerecht. Wenn schon nicht freiwillig, dann wenigstens intensiv und gründlich. Allein diese Praxis ist doch Grund genug, die Juden zu hassen! Aber ist es überhaupt möglich, »Erinnerung in aller Freiwilligkeit« zu erzwingen? Für mich ist »das Erinnern« kein spezieller Akt. Es ist täglich ein Teil meiner Geschichte. Mir fehlen Familienangehörige, eine Heimat, Besitz. Ich erinnere mich, wenn ich meine Tante weinen sehe, wenn ich ein Gedicht lese, bei etlichen noch sobeiläufigen Anlässen. Ich erinnere mich weder freiwillig noch gezwungenermaßen. Es ist eben so. Das große »Leid« ist ein Teil meines Lebens geworden. Kann man aber diejenigen, die nicht täglich daran denken wollen oder können, zwingen, es zu tun? Erreicht man damit nicht genau das Gegenteil?
    »Ach Juden, nicht schon wieder! Können wir mal über was anderes reden? Ich würd gern mal über Somalia trauern … Meine Katze ist krank, wer trauert darüber?«
    Die Proben werden hart. Die Schauspieler teilen sich in folgende Lager:
    »Das Thema ist doch durch« oder: »Über so was macht man keine Witze, der Holocaust ist doch so furchtbar!« Dann gibt es noch einige wenige mit einer Mischung aus Interesse und Humor.
    »Es geht nicht um den Holocaust, es geht darum, wie man mit dem Holocaust umgeht, es geht um das Trauern, um das staatlich verordnete Gedenken«, wiederhole ich tagaus, tagein. Umsonst.
    Täglich gibt es erschöpfende Diskussionen über die Grenzen von Satire und Witz, über Gedenkrituale, über das Lachen angesichts der Katastrophe.
    Ich denke: Warum nicht alles so lassen, wie es ist? Ein schönes Mahnmal und glückliche Trauernde. Aber irgendetwas hat schon von mir Besitz ergriffen, ich muss weitermachen. Als würde allein die Beschäftigung mit dem Thema mir schon einen Teil der Antworten geben.
    Ich werde täglich zum Intendanten zitiert, ich solle mutig sein, aber nicht zu weit gehen, etwas riskieren, aber keine Bombe hochgehen lassen.
    Mich interessieren eher die profanen Dinge, an die bei dem Monument anscheinend niemand denkt: Wer wird das Mahnmal putzen? Menschen mit Migrationshintergrund? Wer wird es bewachen? Deutsche Schäferhunde? Wird es eine Fressmeile geben, für die armen hungrigen Touristen? Undwem wird sich Lea später widmen, wenn sie fertig ist mit den Juden? Den Sinti und Roma oder den Homosexuellen? Wird das Mahnmal für diese Randgruppen genauso groß oder, entsprechend der Anzahl der Toten, etwas kleiner ausfallen? Und was wird passieren, wenn die Bilder von Bergen-Belsen verbraucht sind, wenn sie in niemandem mehr Schrecken und Mitgefühl auslösen? Welche Fotos wird man den Schulkindern dann zeigen?
    Ich habe keine Antworten, aber Fragen über Fragen. Vielleicht haben auch wir uns übernommen.
    »Besser scheitern, als es nie versucht zu haben«, antwortet mir Tine, wenn ich müde und ratlos auf der Probe sitze. Dann erzählt sie mir von den Wettkämpfen im DDR -Schwimmkader und dem langen Atem, den man beim Sport im Besonderen und im Leben generell brauche.
    Irgendwie kommt es sogar zu einer Premiere. Die Luft ist zum Schneiden dick, auf der Bühne, im Zuschauerraum. Ein Streichquartett spielt, dem ein Schauspieler wiederholt zuruft: »Ihr müsst trauriger spielen, noch trauriger, ich fühle immer noch nichts!«
    Eine Schauspielerin trauert um ihre Katze. Ein schwäbischer Schauspieler bietet preisgünstige Stelen an, denn »Holocauscht muss ja net heiße, dass es horrende Koschte verursacht«. Manche Zuschauer lachen befreit, andere fühlen sich in ihrer verordneten Trauer erwischt. Ich bin glücklich, mir gefällt unser Abend. Ich umarme Tine während des Schlussapplauses, dann fange ich an zu weinen vor Anspannung, Müdigkeit. Und vor Trauer um meine Mutter, die nun wirklich tot ist.

    Das Loch nach der Premiere ist diesmal tiefer als gewöhnlich.
    »Trauer to go« ist endgültig vorbei und damit scheint derTod meiner Mutter noch definitiver zu sein, als ein Tod sowieso schon ist.
    Nichts hat sich verändert. Ich bin wie jedes Jahr am Holocaust-Gedenktag vom Bezirksamt Schöneberg ins Rathaus und von der

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