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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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schon auf alles gelegt. Wie schnell das geht.
    Im Arbeitszimmer liegen in heimlicher Ordnung überall Fotografien. Sie ist mit ihrem letzten Projekt, ihrem Buch, nicht fertig geworden. Ich frage mich, ob es mir jemals gelingen wird, irgendwas von dem zu Ende zu bringen oder auch nur zu ordnen. Seit der Einbürgerung 1970 scheint nichts, aber auch gar nichts weggeworfen worden zu sein. Fassungslos öffne ich Schubladen, Schränke und starre hinein … Es ist von allem so viel da, dass man, ohne auf die Straße zu müssen, ungestört vier Jahre in den eigenen vier Wänden verbringen könnte.
    1941–45, vier Jahre Krieg. Anders kann ich mir diese Zumutung nicht erklären. Und es ist eine Zumutung! Haben sie ein ungeschriebenes Gesetz befolgt, das besagt, dass es verboten ist, Dinge wegzuwerfen? Jede Plastiktüte ist aufgehoben worden, die Putzlumpen häufen sich, selbst das Haltbarkeitsdatum auf den Medizinpackungen ist abgelaufen. Aus manchen Schränken lässt sich gar nichts herausziehen, weil sie so voll sind, dass sich die Sachen gegenseitig blockieren.
    Schnell verschließe ich sie wieder. Ich finde meine Aussteuer, Bettwäsche, Tischtücher, die Aussteuer meiner Mutter, noch mehr Wäsche, noch mehr Tischtücher, bis ich bei den Kopfkissenbezügen mit den Initialen meiner Großmutter Hermine angelangt bin. Einst von großem Wert, jetzt vor allem altmodisch und kratzig. Langsam dämmert mir, was mich erwarten wird. Es wird ein Albtraum werden. Wut, Verzweiflung, vor allem Überforderung steigen in mir hoch. Was haben sie sich dabei gedacht? Hier stoße ich auf all das wieder, was ich bei meinem Vater entsorgt habe – und zusätzlich auf Erbstücke, Erinnerungen und Geschenke aller Verwandten bis ins fünfte Glied!
    Und überall Silber, Silber und wieder Silber. Ein Eierköpferaus Silber, ein Teesieb aus Silber, eine Zuckerdose aus Silber. Was mache ich bloß mit diesem vorigen Jahrhundert in meinem Berliner Leben? Ich könnte meinen Beruf aufgeben und mich mit dem Verkauf von Restsilber beschäftigen …
    Wehe dir! Tu das nicht! Ja, wir waren mal wer! Es gab uns! Und jetzt sind wir tot. Aber du bist unser Goldstück, du wirst unser Silber in Ehren halten. Wir waren nicht immer die Gastarbeiter in bestickter Bluse, oh nein!
    Sie sprechen zu mir! Ich habe mich geirrt, niemand ist tot. Da sind sie wieder, sie haben auf mich gewartet. Vorsichtig mache ich Licht. Aber die Stimmen hören nicht auf. Natürlich, so eine Beerdigung ist für die Nerven der reinste Marathon. Stimmen sind da ganz normal, geradezu an der Tagesordnung. Da kichert jemand.
    »Werden alle Juden klug geboren? Nein! Aber die Dummen lassen wir gleich taufen …« So ein Witzbold. Wessen Stimme war das?
    Ich will gehen, aber die Tür ist abgeschlossen und ich finde den Schlüssel nicht.
    Geh nicht! Bleib! Leiste uns Gesellschaft. Wir sind allein, du musst uns vertreten. Ja! Jetzt bist du an der Reihe. So ist das nun mal, ein Wimpernschlag und dann ist man selber dran. Ein Skelett kommt an die Theke, »Ein Bier und einen Putzlumpen bitte … Hi, hi, hi«.
    Nein, Spaß beiseite, mach dir keine Sorgen. – Die Reihenfolge der Fotos, die deine Mutter gemacht hat, ist ganz einfach zu verstehen, sie sind beschriftet, dreh sie doch um. Man muss sie nur ordnen. Es wird ein herrliches Buch werden, du wirst sehen. Du musst Vertrauen haben, nur mit der Ruhe, wir sind doch bei dir! Wirst du das Erbe annehmen? Aber das ist eigentlich gar keine Frage, oder? Und ja, das Silberputzmittel ist im untersten Fach, im untersten Fach. Du wirst es brauchen. Im untersten Fach.
    »Ja«, sage ich, »ist in Ordnung, im untersten Fach. Gebtmir Zeit, Zeit. Ich werde das Licht löschen und rausgehen. Ihr werdet euch ausruhen, ich werde mich entspannen. Dann werde ich wieder vorbeikommen, und wir werden Silber für Silber, Foto für Foto durchgehen, versprochen.«
    »Gehen wir?«, fragt mein Mann.
    »Ja.«
    »Ist alles in Ordnung, du bist so blass?«
    »Nein, alles wunderbar. Ich habe mich unterhalten. Ich bin ein bisschen stolz auf meine Dibbuks. Dibbuks, mit denen man sich richtig gut unterhalten kann.«

    Mit zwei Wochen Verspätung beginnen die Proben zu »Trauer to go«. Ich verspreche, den Premierentermin trotzdem einzuhalten, manchmal ist Druck ja produktiv. Nein, mir ginge es so weit ganz gut, wirklich. Arbeiten sei das Beste.
    Ich denke an meine Mutter, wie sie dagelegen hat, in ihrem Mädchenkörper mit dem Greisengesicht. Die Beschäftigung mit dem Mahnmal und der

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