Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Italien bleibst, wirst du ein verwöhntes italienisches Ding«, sagte meine Mutter. »Du wirst herumlaufen wie all diese albernen Italienerinnen«, und meldete mich im Internat an. »Eine alte Villa, vierzig Kinder, überschaubar, Waldorfschule, Garten, keine Nazis«, gab der Rabbiner Auskunft und empfahl diesen Ort. Im Herbst 1967 kam ich in die Waldorfschule in Marburg und in das dazugehörige Internat. Ich war sieben und sprach kein Wort Deutsch.
Ich kann mich erinnern, wie meine Tante mich auf dieser ersten Zugfahrt nach Deutschland begleitete. Wir saßen uns gegenüber, spielten Briscola, das Gras wurde immer grüner, je näher wir der Grenze kamen. Sie sprach mir Mut zu. Die ganze Fahrt über trug sie eine große Sonnenbrille. Während des gesamten Aufenthaltes in Gießen wechselte sie kein Wort mit meinen Eltern.
Bis die Schule anfing, blieb ich bei meiner Großmutter Hermine, der »Baka«. Meine Mutter hatte sie aus Zagreb nach Gießen geholt. Täglich ging sie mit mir ins Schwimmbad. Mein Lieblingsspiel dort war, mich tot zu stellen, bis der Bademeister mich aus dem Wasser fischte. Dann wartete ich kurz, um mich wieder tot zu stellen. Arme Baka. Wir hatten etwas gemeinsam: Beide waren wir völlig deplatziert in dieser desolaten Kleinstadt.
Von da an lebte ich zwei Leben.Von Frankfurt aus flog ich jede Ferien mit der Lufthansa nach Mailand, ein durchsichtiges Plastiktäschchen um meinen Hals mit meinem Namen und meinem Reiseziel. Dort holte mich meine Tante ab. Im Zug nach Mantua erzählte ich ihr von Deutschland, und sobald wir in Mantua ankamen, war ich wieder Italienerin.
Ich liebte Italien. Das verwinkelte Haus voller Geheimnisse, die verrückte Valeria, die Kinder auf der Straße. Immer gab es etwas zu entdecken. Auf dem Dachboden in einem staubigen Schrank fand ich das letzte Ballkleid meiner Tante, das sie 1941 zum Journalistenball angezogen hatte und in dem sie Ballkönigin geworden war, hellblauer Tüll mit Perlen (wo hatte das den Krieg verbracht?). Gleich daneben hing die Uniform meines Onkels, die er ausgezogen hatte, als er mit der gesamten italienischen Armee »desertiert« und mit meiner Tante von Rab nach Mantua gekommen war. In der Ecke lehnte sein Bajonett. Es war sagenhaft.
Meine deutsche Kleidung wurde in Italien bis auf Weiteres eingemottet. Ich blieb immer bis über die Ferien hinaus – eine deutsche und eine italienische Schulausbildung, man kann ja nie wissen! Jüdische Kinder sollten auf alles vorbereitet sein. So besuchte ich regelmäßig beide Schulen, bis ich zwölf war. Ich kannte mich gut aus: von Eurythmie bis zur Beichte. Im Grunde war der Unterschied nicht so gewaltig, außer vielleicht, dass es in der Mädchenschule etwas braver zuging als in der Waldorfschule. In der italienischen Mädchenschule verfolgte mich tagaus, tagein der vorwurfsvolle Blick des an der Wand hängenden Jesus. In Deutschland starrte Rudolf Steiner von seinem Porträt aus nicht weniger vorwurfsvoll in jeden Winkel der Klasse hinunter.
Den Engel Gabriel aber, den ich immer mit dunklen Haaren malte, ließen die Antroposophen nicht durchgehen. Engel sind blond, auch wenn in Italien die Menschen meistens dunkelhaarig ausfallen.
Die Lebensmodelle meiner Mutter und meiner Tante wurden zum Maßstab meiner Erziehung. Ballett in Italien, Judo in Deutschland. In Gießen trug ich einen burschikosen Haarschnitt und Hosen. »Wie siehst du denn aus?«, lächelte meine Tante, wenn sie mich in Italien empfing. In Mantua bekam ich Schleifen ins Haar und lange Faltenröcke, ganz nachder italienischen Mode. »Welches Mädchen läuft heutzutage noch so albern rum?«, knurrte meine Mutter, wenn ich nach den Sommerferien wieder in Deutschland ankam.
Im Internat kontrollierte Tante Hildegard die Tagesabläufe. Während des Zweiten Weltkrieges war sie »Reichskindertagesstättenbeauftragte im Großraum Berlin« gewesen. Beritten hatte sie die Vororte der Reichshauptstadt durchstreift, die damals bis weit ins heutige Polen reichten, und deutschstämmige Kinder aufgesammelt, um sie in deutschen Kindergärten aufzuziehen. Ich möchte gar nicht wissen, was sie sonst noch tat.
Das deutsche Volksliedgut ist mir seitdem genauestens vertraut, wie auch Übungen, in denen man über Stunden in eiskaltem Wasser waten muss, um seinen Körper für harte Zeiten zu stählen. Meine Tante war außer sich. Sie verabscheute »Tante Hilde«, wie wir sie zu nennen hatten, sofort und zutiefst. Sie machte meinen Eltern eine Szene, aber die
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