Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Leben …verlorene Liebe, verlorenes Leben … der Fritz. Der Fritz Epstein, der wär’s gewesen, groß, blond, blauäugig. Dein Onkel? Primitiv, Katholik.
Onkel Vladko … er war noch warm, als die Amerikaner kamen. Die haben ihn in den letzten Stunden umgebracht. In den letzten Stunden. Armer Onkel Vladko, ein Spinner, aber gutmütig. Warum, frage ich dich. Warum?
Das Klingeln des Telefons weckt mich. »Er ist tot, er ist tot!«, schreit meine Tante. Erst nach einer geraumen Zeit begreife ich, von wem sie spricht: Ihr Hund ist tot. Bevor sie vor Kummer droht, ihm zu folgen, verspreche ich, sofort anzureisen.
Ich frage sie noch vorsichtig, ob sie sich vorstellen könne, jemals einen neuen Hund zu haben. Sie jammert unter Tränen: »Niemals, aber er soll lange Haare haben. Und auf keinen Fall einen Rüden!«
Der Zug nach Mantua hat immer Verspätung. Er gehört noch ganz in die Garibaldi-Zeit. Als ich Kind war, hatte jede Sitzbank eine eigene Einstiegstür, die Bänke waren aus Holz. Das hat sich nun geändert. Alles andere, die Verspätung, das Tempo, sind geblieben. Auch die Landschaft ist noch genauso flach und ohne jede Abwechslung. Im Dunst wirkt alles noch öder und verlorener. Ich bin seit zwei Stunden unterwegs, von Mailand aus, und wir sind noch nicht einmal in Cremona. An mich kuschelt sich ein Hündchen, das Nachfolgemodell für »Gini«, den Yorkshireterrier, den meine Tante einschläfern lassen musste. Es ist ein Bologneser-Mädchen, klein, weiß und weich wie ein Wattebausch. Es wird perfekt zum weißen Haar der Tante passen, und unter den portici , den Torbögen in Mantua, werden alle Passanten anhalten und die beidenbewundern. Nach wenigen Tagen wird das unschuldige Tier völlig verzogen sein, und wir werden uns streiten, ob ein Tier mit am Tisch sitzen darf.
Meine Tante ist die Reinkarnation des britischen Königshauses, was die Manieren anbelangt. Sie ist derart vornehm, dass man sie zuweilen für eine geborene Gräfin hält. Aber bei einem Hund wird sie schwach und lässt die Welt des guten Benehmens völlig hinter sich. Ich jedenfalls finde es eklig und unpassend, wenn ein Hund mit im Bett schläft. In dieser Hinsicht passt sie vermutlich auch zum englischen Königshaus.
Damals, 1964, kam meine Tante mit ihrem Mann, meinem bereits glatzköpfigen Onkel, von Mantua zu uns nach Zagreb. Ich wurde in Decken gehüllt, sollte schweigen und unter dem Vorwand einer Augenoperation schmuggelten mich Tante und Onkel auf dem Rücksitz ihres Fiats nach Italien. Es war dunkel, als ich an der Grenze aufwachte. Ein Zöllner schaute mich an. Nichts passierte. Ich fragte ihn höflich, ob wir schon in Italien seien. Meine Tante schrie hysterisch, ich solle den Genossen arbeiten lassen. Also schlief ich weiter. Als ich das nächste Mal aufwachte, war es Tag, sehr heiß und sehr hell. Ich lernte, dass acqua Wasser heißt, cane Hund und begann, mich in der Fremde zu orientieren.
Mein Onkel, Geometer Giorgio Motta, war ein dürrer, blasser, nicht sehr attraktiver Mann. Auf seiner großen Nase saß eine schwarze Hornbrille mit extrem dicken Gläsern. Trotzdem sah er schlecht. Er führte das Büro seiner Familie weiter, in dem schon sein Vater und Großvater Geometer gewesen waren. Er baute Häuser, erstellte Statiken und war zuständig für die Feldvermessung. Wenn Korn- oder Reisfelder durch Hagel beschädigt worden waren, verlangte die Versicherung Angaben über den Schaden. Mein Onkel zog sich eine riesige grüne Gummihose an, ähnlich einer Anglerhose, fuhr zu den Bauern hinaus und stakste durch deren Felder. Diese Ausflügenahm mein Onkel sehr ernst, zelebrierte jeden Vorgang mit größter Bedeutung. Wenn ich mitfahren durfte, war ich immer schrecklich beeindruckt von seiner Wichtigkeit. Ich habe Onkel Giorgio nur einmal in Badehose gesehen, im Sommer am Gardasee. Sein weiches weißes Fleisch war sogleich in der Sonne verbrannt, sodass man ihn tagelang pflegen musste. Von da an blieb er im Halbdunkel des Hauses, schaute aus dem Fenster und kontrollierte von dort jede unserer Bewegungen.
Jelka und Giorgio hatten sich schon in Selce kennengelernt, wo er als Soldat stationiert gewesen war, und wo meine Tante mit vielen anderen Flüchtlingen angespült wurde. Schon bald wurde sie von der Küste zuerst in das Gefangenenlager Kraljevica, dann in das KZ auf der Insel Rab gebracht. Dort tauchte mein Onkel wieder auf – ließ sie aber im Unklaren darüber, ob er zufällig nach Rab versetzt worden war. Jedenfalls
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