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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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brutale Tiere, die mir nachliefen und mir in den Hintern bissen. Ich fürchtete sie sehr, nicht selten flüchtete ich mich auf den Aprikosenbaum, um in einem Moment ihrer Unaufmerksamkeit ins Haus zu huschen. Sie waren besser als jeder Hund und jeder Carabiniere, nichts entging ihrer Kontrolle.
    Ich kann mich nicht erinnern, meine Mutter sonderlichvermisst zu haben, und wurde von meiner Tante bestens versorgt, erzogen, geliebt. Ich war zu beschäftigt: Die fremde Sprache, die neue Umgebung, die Menschen, die Tiere. Ich bekam einen Collie geschenkt, den ich natürlich Lassie nannte. Wir waren unzertrennlich und verständigten uns auf Kroatisch.
    Wir lebten in einer Villa vier Kilometer außerhalb Mantuas. Zum Hausstand gehörten, außer den Tieren, auch die Mutter meines Onkels, die »böse Schwiegermutter« in Person, und deren mongoloide Schwester Valeria. Valeria war über fünfzig, enorm dick und sagte von sich: »Sono matta, ma non sono stupida.« Was so viel heißt wie: »Ich bin verrückt, aber nicht dumm.« Diese beiden alten Damen bestimmten den Alltag. Hatten sie Hunger, gab es zu essen. Sprach der Papst im Fernsehen, wurde gefastet – und alle mussten andächtig seinen Worten lauschen. Immer waren die Fensterläden geschlossen, so war es selbst im heißesten Sommer dämmrig und kühl im Haus.
    Meine schöne Tante war die Sklavin in diesem Betrieb. Sie kochte, wusch, sorgte für das Funktionieren des gesamten Haushalts. Morgens fuhren wir ins Büro in die Stadt. Mein Onkel saß an seinem Schreibtisch und arbeitete. Was genau er am Schreibtisch arbeitete, habe ich nie verstanden – er saß. Rennen, tippen, telefonieren, das erledigte alles meine Tante. Mittags fuhr man nach Hause in die Villa, es gab täglich Pasta. Dann schliefen alle, bis es wieder kühler wurde, und man fuhr wieder ins Büro. Alles blieb immer gleich, nur die Fiat-Modelle änderten sich. Aus dem Fiat 500 wurde ein Fiat 650, der in den Mincio-Kanal rollte, weil meine Tante vergessen hatte, die Handbremse anzuziehen. Eine Zeit lang hatten wir sogar einen dunkelblauen Alfa Romeo Giulietta, wie ihn die Carabinieri fuhren. Ich bekam einen schwarzen Schulkittel mit einem weißen Kragen und einer rosa Schleife und ging in die Schule oder die Kirche – je nachdem, was auf dem italienischen Stundenplan stand. Nachmittags spielte ich im Parco San Virgilio, auf der Piazza Pavone und aß Eis. Wenn es dunkel war, promenierte man in der Altstadt unter den Bögen hindurch, besah sich die Geschäfte, grüßte nach links und rechts und fuhr zum Abendessen wieder nach Hause. Jeden Abend brachte meine Tante mich ins Bett und betete auf Deutsch mit mir:
    »Lieber G’tt, ich geh zur Ruh, schließe meine Augen zu. G’tt ja, aber Jesus nein, hörst du? Jesus ist nur eine Erfindung der Christen und hat mit uns gar nichts zu tun. Er war ein kluger Mann, so eine Art Messias vielleicht, aber mehr auch nicht – das musst du dir merken! Wir sind Israeliten, verstehst du? Man hat uns hier aufgenommen, was ausgesprochen freundlich ist. Deshalb ist es höflich, möglichst gut ihre Sprache zu lernen, ihre Flüsse und ihre Städte. Sie sind nicht so wie die Deutschen, aber sie sind Katholiken. Der Papst, schau ihn dir an – ein falscher Hund! Aber das sagt man nicht, das darf man nur denken. Die Valeria ist nicht unsere Familie, wir haben keine Irren in unserer Familie, bei uns gibt es keine Irren. Es ist der Neid, der die Nichtjuden bewegt, größtenteils, das musst du wissen. Sie beneiden uns um alles Mögliche, da kann man nichts machen. Vorsichtig musst du sein – das kann nie schaden. Bitte lass die Augen dein über meinem Bette sein. Proteggi tutti i miei cari, beschütze und behüte all meine Lieben: Mama e Papa, Teta Jele, Cika Giorgio, Lassie und all unsere Toten. Amen. Gute Nacht.«
    Für eine Weile ging das Leben seinen italienischen Gang, sehr familiär mit ausgezeichnetem Essen und vielen Spielkameraden auf der Straße … Ich liebte meine schöne Tante sehr.
    Mein Vater arbeitete inzwischen in Zürich und in Konstanz am Bodensee meine Mutter. Sie trafen sich am Grenzübergang, am Schlagbaum, denn meine Mutter durfte nicht in die Schweiz einreisen. Gelegentlich kamen sie nach Mantuazu Besuch. Bis sie irgendwann beide Arbeit in Deutschland fanden, in Gießen. Dort kamen sie auf die Idee, mich nach Deutschland zu holen und auf ein Waldorf-Internat zu schicken. Ich verschanzte mich mit Lassie in der Hundehütte und weinte stundenlang. »Wenn du in

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