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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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ließen sich nicht beeindrucken. Der Rabbiner aus Frankfurt hatte die Waldorfschule ausdrücklich als nicht judenfeindlich eingeschätzt.
    »Zwölf Jahre Internat! Das ist ja schrecklich.«
    Wenn ich irgendwo punkten will, muss ich nur beiläufig erwähnen, dass ich zwölf Jahre im Internat verbracht habe – für die folgenden zweieinhalb Stunden brauche ich mich um Gesprächsstoff nicht zu sorgen.
    Schrecklich? Keine Ahnung, kein Gefühl. Mir fehlt der Vergleich. Es war nicht schrecklich. Es war, wie es war. Mit der Zeit wurde es immer besser. Ich gewöhnte mich ans deutsche Essen, an die deutsche Sprache und an die Internatsriten. Am Anfang war es nicht ganz einfach, wieder eine neue Umgebung, wieder eine neue Sprache. Meine Tante fehlte mir, ich fühlte mich allein. Doch ich behielt mein Heimweh für mich. In meinem Zimmer war ein gleichaltriges Mädchen, Anne, sie war so blond, wie ich dunkel war. Sie schaukelte sich, ich weinte mich in den Schlaf. Wir wurden unzertrennlich.»Ich heiße Adriana und komme aus Zagreb.« Das war so ungefähr das Einzige, was ich auf Deutsch konnte. Bis ich die Sprache einigermaßen gelernt hatte, spielte ich allen die mir fehlenden Begriffe vor: Frühling, Blockflöte, Logarithmen. Überhaupt spielte ich viel Theater, das war in der Waldorfschule sehr gefragt und machte mir Spaß. Außerdem wollte ich ja sowieso Schauspielerin werden.
    Es gab folgende Wochen-Ordnung: montags Singen und Frikadellen, dienstags Basteln und Nudeln, mittwochs Spieleabend und Grießbrei, donnerstags Vorlesen und Leber, freitags Aufräumen und Fisch, samstags Nachhausefahren, sonntags kaltes Essen und früh ins Bett.
    Zwölf Jahre dasselbe Programm. Abendessen um 18.30 Uhr, Licht aus um 21 Uhr. Wer danach noch schwatzte, musste vor der Tür stehen oder Kartoffeln schälen – und Kartoffeln gab es täglich.
    Die Regeln waren merkwürdig, zum Beispiel: Reden und Wassertrinken beim Essen nicht erlaubt. Für Italiener unvorstellbar. Mein Heimweh plagte mich, aber höchstens Anne durfte an meiner Schwäche teilhaben. Irgendwann hatte ich mich an alles gewöhnt, das Internat wurde eine Art Zuhause. Anne und ich passten aufeinander auf, so gut es ging. Sie brauchte Stunden, um ein Essen, das ihr nicht schmeckte, herunterzuschlucken. Ich leistete ihr Gesellschaft, denn nur wer aufgegessen hatte, durfte aufstehen. Manchmal wurde es Nachmittag darüber. Mir dagegen war es unmöglich, die richtigen Fingersätze für die Blockflöte zu lernen, geduldig übte Anne sie mit mir. Gemeinsam lernten wir alle Strophen sämtlicher deutscher Volksweisen. Wir banden Adventskränze und häkelten, wir wanderten und bastelten. Anne wurde an den Wochenenden oft nicht abgeholt, so nahm ich sie mit nach Gießen zu meinen Eltern, und in den Ferien fuhren wir zusammen nach Italien. Wir hatten uns arrangiert, waren Kindersoldaten, sehr geschickt und sehr misstrauisch.
    Tante Hilde trug gerne Dirndl, wir taten es ihr gleich, Anne in Blau, ich in Rot. Stolz liefen wir zu Annes Konfirmandenunterricht, fanden nicht pünktlich zurück. Abends gab es für jeden eine Ohrfeige und viele Kartoffeln zu schälen. Anne weinte, doch so etwas ließ mein Stolz nicht zu. Ich zeigte keine Schwäche, im Gegenteil. Ich perfektionierte mich im Organisieren meines kleinen Kinderlebens. Nur selten unterlief mir ein Fehler, der mich angreifbar machte. Ich dachte, wenn ich besser, schneller und geschickter bin als die Leitung, bin ich ganz klar im Vorteil. Meine Schlafecke war extrem aufgeräumt, jeden Abend legte ich meine Anziehsachen minutiös zurecht, sodass ich am nächsten Morgen im Nu angezogen war und überpünktlich am Frühstückstisch saß. Ich war eine sehr gute Schülerin und eine Koryphäe im Adventskranzflechten. Mein Taschengeld hatte ich gespart: 100 DM . Mein Plan war, jederzeit nach Italien fliehen zu können. Eines Tages würde ich losfahren und meine schöne Tante, die Teta Jele, von ihrem Martyrium befreien. Gemeinsam würden wir ausbrechen aus diesem Jammertal. Wahrscheinlich hätte man mich niemals ohne Pass am Brenner durchgelassen, aber der Gedanke wirkte beruhigend und wiegte mich in den Schlaf.
    Das Internat war kein elitäres Heim, eher eine Sammelstelle für Kinder aller Art. Persische Geschwister, geparkt, bis die politische Lage sich entschärfen würde. Die Tochter von Hoteliers, die keine Zeit für die Erziehung ihrer Erbin hatten. Joachim, der es satthatte und auf einem gestohlenen Fahrrad floh, es bis nach Österreich

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