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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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schaffte. Heute lebt er immerhin in Australien. Oder Helmut, der gerne mit Chemie experimentierte, dem dabei etwas schiefgegangen war und der nun eine Armprothese trug. Die Hand ließ sich »per Gedanke bewegen«, wie er immer behauptete. Wenn er mir nachstellte, hielt er mir seine zuckende Faust vors Gesicht, und ich musste ihm Leberwurstbrote schmieren.
    Die Größeren spielten Knecht Ruprecht, ängstigten dieKleinen mit der Rute oder brachten sie in der Johannisnacht mit Schauergeschichten zum Weinen.
    Die Internatsköchin war untersetzt und unfreundlich, sie öffnete gerne Dosen mit Ochsenschwanzsuppe, eine Spezialität der 60er-Jahre. Ihre Vorratskammer hielt sie verschlossen, wie auch den begehbaren Kühlschrank. Allerdings kam es nicht selten vor, dass ein vermisstes Kind dort gefunden wurde.
    Peter war Sohn eines CDU -Politikers aus Bonn. Ein Schwafler und Petzer. Wir prügelten uns regelmäßig, meine Bisswunden waren Trophäen und im »Eier-Catch« macht mir noch heute keiner etwas vor. Auf winzigen Zetteln beichtete mir Ingo seine Liebe, wir küssten uns auf dem Treppenabsatz, ich hätte schwören können, es hat keiner davon gewusst.
    Es war wirklich immer etwas los im Internat, es rettete mich vor dem Einzelkinddasein und meinen exzentrischen Eltern. Vielleicht waren zwölf Jahre ein wenig lang. Die letzten Internatsjahre verbrachte ich damit, Nutella mit einem Esslöffel direkt aus dem Glas zu futtern.

    Schön, dass der Zug so lange braucht, dann können wir schon einige Dinge in Ruhe besprechen: Auf dem jüdischen Friedhof in Mantua möchte ich beerdigt werden, auf keinen Fall neben deinem Onkel auf dem christlichen. Hai capito? Er wollte nie, dass ich in die Synagoge gehe. Jetzt kann er sehen, wo er bleibt. Auf dem christlichen Friedhof mit den Seinen ohne mich! Ascoltami bene: Sechs Wochen hast du Zeit, das Erbe anzutreten. Danach bekommt alles der italienische Staat. Hinten im Glas mit den Muscheln liegt der Schlüssel zum Schrank, in dem liegt mein Testament. Guarda di sbrigarti, beeil dich!
    Das war nicht anders zu erwarten: Meine Dibbuks sind zweisprachig und fahren gerne Bahn!
    Der Zug hält, endlich sind wir in Mantua. Auf dem Bahnsteigsteht meine Tante, vornehm und klein, mit ihrer überdimensionalen Sonnenbrille. Sie weint vor Glück – ob über mich oder über den Hund, lässt sich nicht ausmachen.
    Es ist Ferragosto. Taxis fahren keine, wir laufen durch die heiße, leere, alte Stadt. Wir sind ein eingespieltes Team. Sie erzählt mir die wichtigsten Neuigkeiten: Wieder einmal hat man bei ihr eingebrochen. Eine Aktentasche fehlt, die zwar leer, aber sehr praktisch war. Vor zwei Wochen ist man auch in ihre Ferienwohnung am Gardasee eingebrochen: Sie kann es beweisen, der Wasserhahn tröpfelte, den sie mit absoluter Sicherheit gut abgestellt hatte. Detektivisch gehen wir alle Möglichkeiten durch, wie es passiert sein könnte, bis wir die schwere Holztür zu ihrer Wohnung mit dem wer-weiß-wievielten neuen Schloss erreichen.
    Nach dem Tod meines Onkels zog meine Tante in das ehemalige Büro in der Stadt. Die Wohnung liegt im jahrhundertealten Verwaltungstrakt des Palazzo Ducale, direkt unter dem Hungerturm. Die Tür ist mehrfach verriegelt, das neue Schloss schließt noch schwer. Drinnen ist es dunkel und feucht. Die drei Zimmer sind vollgestellt mit den herrlichsten Antiquitäten, in einer Vielzahl, dass die Wohnung einem sizilianischen Museum gleicht. An die zehn Uhren ticken tapfer vor sich hin. Zur vollen Stunde schlagen sie, da sie nicht exakt gleich gehen, alle hintereinander: Fünf Minuten lang herrscht ein Höllenlärm, dann setzt wieder das regelmäßige Ticken ein. Es ist staubig, ich niese, räume mir eine Sitzgelegenheit frei, es staubt noch mehr. Ich darf mir auf keinen Fall vorstellen, wie ich später einmal dieses Chaos lichten muss, sonst trifft mich auf der Stelle ein Allergieschub, von dem ich mich nie wieder erholen werde.
    Meine Tante erfuhr nach Kriegsende durch das Rote Kreuz, dass ihre Mutter und ihre Schwester Thea noch lebten. 1948 fuhr sie zum ersten Mal wieder nach Zagreb, sie hatte diebeiden fünf Jahre nicht gesehen. Von da an besuchte sie Thea und ihre Mutter regelmäßig, dort fühlte sie sich nicht so allein. Sie war eine schöne Frau, und die Affären blieben nicht aus. Doch auch die konnten sie nicht dazu bringen, wieder in ihre alte Heimat, die ihr so unrecht getan hatte, zurückzukehren.
    Wenn ich nach Zagreb gefahren bin, habe ich immer Geschenke

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