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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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und Gefühle war meine Tante zuständig. Meine Mutter hätte die vielen »Versuche«, die in der Regel Fehlversuche waren, nicht ausgehalten (»kannst du dich mal für einen entscheiden?«) oder mir zu stark hereingeredet (»reine Zeitverschwendung! Lies lieber ein Buch, da hast du mehr davon.«).
    In Sachfragen oder Fragen des Berufes allerdings war sie einsame Spitze. Ihr Urteil war scharf und genau. Sie sagte jedem ihre Meinung, auch und vor allem ungefragt. Während meine Tante stets lächelte und schwieg.
    »Die Baka hat nur deine Tante geliebt«, klagte meine Mutter.
    »Dein Großvater war launisch wie deine Mutter, er hat sie vergöttert, mich nie!«, beschwerte sich meine Tante.
    Allein waren beide. Gemeinsam waren ihnen ihre Kindheit und ein kleiner Teil ihrer Jugend. Ich reiste als Kind hin undher. An beide Varianten passte ich mich perfekt an. Irgendwann hatte ich von beiden das Beste und Schlimmste verinnerlicht.
    Nach dem Tod meines Onkels Mitte der Neunzigerjahre trauerte meine Tante ein Jahr um ihn, weinte, war untröstlich, bissig. Dann erholte sie sich, begann zu reisen, machte Urlaub, um sich erneut auf Reisen zu erholen. Sie verjüngte sich von Tag zu Tag. Auch heute, wo wir in der mittaglichen Hitze von Mantua den Hund ausführen, kichert sie fröhlich vor sich hin.
    Ich finde, wenn man schon alt werden muss, dann am besten in Italien, am allerbesten in Mantua, die alten Herrschaften, die sich unter den portici begegnen, wirken zufrieden. Sie tragen ihre Hüte und dicken Hornbrillen mit Würde. Manche sind stolz auf ihre Turnschuhe. Sie bleiben stehen und beglückwünschen sich zu ihren Hunden und ihrer Gesundheit. Nicht selten führen sie ein Enkelkind an der Hand. Die Stadt ist ebenfalls alt, sehr alt, die Renovierungswut hat aus Geldmangel nur die Banken und Ramschläden erreicht. Ansonsten ist alles wie immer, wie vor hundert, zweihundert oder fünfhundert Jahren. Meine Tante ist, speziell im Winter, mit ihrem ausladenden Nerz und ihrer russischen Pelzmütze in diesem Seniorenballett die Schönste. Sie sieht dann aus wie Anna Karenina – hätte die sich damals nicht vor den berühmten Zug gestürzt.
    Der kleine weiße Bologneser macht sich wirklich perfekt neben ihr. Passanten verlangsamen ihre Schritte und schauen ihr nach. Sie lächelt. Ich werde im Alter nicht so aussehen, dafür bewege ich mich zu viel und zu hektisch. Ich habe sicherlich manches von meiner schönen Tante geerbt, aber es hätte ruhig noch mehr sein können. Das meiste habe ich von meiner Mutter, die verbissene Arbeitswut, den Wunsch, die Welt zu verbessern, auch wenn niemand einen darumgebeten hat. Das Ergebnis sind die Magenfalten um den Mund, die meiner Tante selbstverständlich erspart geblieben sind – meiner Mutter und mir nicht. Sie lassen einen verhärmt und sehr kritisch aussehen, selbst wenn man an gutes Essen denkt.
    Wenn meine Freunde meine Tante kennenlernen, sind sie verzückt, lächeln sie verklärt an – sie schmunzelt vielsagend zurück. Keiner weiß, dass sie Berlusconi wählt und den elektrischen Stuhl für Vergewaltiger befürwortet. Ab und zu reißt mir der Geduldsfaden, und ich streite mit ihr über Umberto Bossi und seine lega nord . Sie will nicht einsehen, dass deren Ausländerfeindlichkeit auch die Juden betrifft. Sie schüttelt den Kopf und zieht sich beleidigt in sich zurück. In der Nacht betet sie dann leise. Sie betet lange, auf Kroatisch:
    »G’tt, ich danke Dir für Deine Taten, für Deine unendlich guten Taten. Bitte, oh G’tt, bitte sorge dafür, dass kein Hitler mehr auf diese Erde kommt. Nie mehr. Trage Sorge, dass die deutschen Wiedergumachungszahlungen nicht aufhören mögen, denn das ist meine Rente, oh Herr. Ich bitte Dich um Gesundheit und Glück für all meine Lieben … lieber G’tt …«
    Sie lassen sie nachts nicht schlafen. Damals nicht und heute auch nicht. Ihre Dibbuks lassen auch sie nicht schlafen, und Jahr für Jahr muss sie den Nachweis erbringen, dass sie noch lebt, indem sie sich persönlich in der Botschaft in Mailand einfindet, damit die Wiedergutmachung aus Deutschland weitergezahlt wird. Einmal, als das Geld aus Deutschland nicht pünktlich eintraf, bat ich sie, dort anrufen zu dürfen, statt sich nur auf Gebete zu verlassen. Sie flehte mich an, es nicht zu tun. Immer wieder versicherte ich ihr, dass die Deutschen das Wiedergutmachungsgeld zahlen müssten, zahlen würden, dass ich mir schlimmstenfalls einen Anwalt nehmen würde. Es änderte nichts: Ihre

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