Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
leise unsere Sachen. Damit müssen sie allein zurechtkommen. Wir können ihnen keine Absolution erteilen. Sie tun mir fast ein wenig leid in ihrer Enttäuschung. Als wir die Tür hinter uns schließen, höre ich noch einen Notar sagen: »Übertrieben … So kann man das nicht sagen. Zu einseitig … Die Wirklichkeit ist viel ambivalenter … Es stimmt alles so nicht, so extrem war es gar nicht.« Dann klappt die schwere Holztür zu.
Am nächsten Tag ruft Raffi an. Wir haben beide einen Kater, nicht nur vom Alkohol, ganz unbeschadet haben auch wir den Abend nicht überstanden.
»Einen Witz? Warum nicht?« Etwas scheint ihn zu bedrücken.
»Über der Synagoge hängt ein großes Schild. Mendel liest: Ohne Kippa zum Gottesdienst zu gehen ist genauso schlimm wie seine Frau zu betrügen.
›Ich habe beides probiert‹, sagt Mendel, ›man kann das eine mit dem andern nicht vergleichen!‹
Wir lachen kurz, dann wird er ernst:
»Ich muss nach Amerika. Genauer gesagt, nach Kanada, dorthin schickt mich das Goethe-Institut auf eine Vortragsreise: ›Juden heute in den deutschen Medien‹.«
»Ist doch super«, sage ich. »Mein Traum!«
Raffi aber denkt ans Sterben und benimmt sich wie Oblomow, den allein die Eventualitäten schon derart strapazieren, dass er überhaupt nicht mehr handeln kann. Dabei ist es ein Coup! Das deutsche Goethe-Institut schickt einen schwer über Deutschland nörgelnden Juden zu den Kanadiern, um ihnen das Deutschtum näherzubringen. Denn »die Vermittlung und Förderung der deutschen Sprache und des Deutschtums im Ausland ist die vordringliche Aufgabe des Goethe-Instituts«.
»Siehst du, Raffi, wie gut du es hast? Sie bezahlen dich sogar für deine Zweifel. Sie finanzieren dir eine Reise mit Kost und Logis, damit du lauter Fragen stellst, die du dir dann selbst beantwortest. Wenn das kein Luxus ist? Wenn das kein aufgeklärtes Land ist, das sich so etwas leistet? – Raffi, hallo, bist du noch dran?«
»Ja, ja.« Er klingt müde und wenig überzeugt.
»Du schimpfst doch sonst pausenlos über Berlin. Gehört doch zu deinem Beruf, sozusagen. Jetzt plötzlich, wo du dich für zehn Tage, zehn schlappe Tage trennen sollst, um im Ausland zu nörgeln, bekommst du Panikattacken.«
Ich rede und rede, klug und pragmatisch, aber am anderen Ende wird es stiller und stiller.
»Was soll während deiner Abwesenheit passieren?«, scherze ich. »Das Café an der Ecke wird noch genauso dastehenund auf dich warten, du wirst einen Minztee bestellen, ohne dass die Bedienung überhaupt merken wird, dass du verreist warst. Wahrscheinlich wirst du es selbst kaum spüren. Und der Salon von gestern Abend wird dir sicher nicht fehlen, denke ich …«
»Du hast leicht reden. Du bist hart wie Stahl. Aber ich? Hast du alles vergessen? Wenn man keine Heimat hat oder wenn einem die Heimat genommen wurde, werden die unglaublichsten Dinge dazu. Eine Straße, eine Kreuzung, ein bestimmtes Café, die Musik, die dort nachmittags läuft, die hässliche Kellnerin, der Kiosk mit dem furzenden Schäferhund. – Ich habe nur noch das, wenn man mir das nimmt, sterbe ich. Sofort.«
Ich schweige, denn ich weiß, was er meint. Es gibt Tage, da liebe ich sogar meine Poststelle.
»Ich weiß sehr viel davon, Raffi. Ich verspreche dir, auf alles aufzupassen, bis du wiederkommst. In Ordnung? – Du aber musst für uns herausfinden, wie es in Kanada ist. Ob wir da nicht viel besser aufgehoben gewesen wären, und warum sie verdammt noch mal nicht dorthin ausgewandert sind. Nach Übersee. Nach Kanada. Nach Amerika. Damals, als man sie rausschmiss, aus allen Clubs und so …«
Während ich noch vom Auswandern in das Wunderland Amerika träume, erreicht mich ein Anruf aus Kroatien. Meine Cousine Dara bittet mich, so bald wie möglich nach Zagreb zu kommen, um das Grab meines Großvaters Sigismund zu übernehmen, sprich auf meinen Namen umschreiben zu lassen, jetzt, da meine Mutter tot ist. Eine Lappalie im Grunde.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich in mein Geburtsland reise. Irgendwann in der Pubertät, als mir klar wurde, was das ungefähr hieß, »mosaischen Glaubens«, wollte ich mehr, Genaueres wissen. Woher kamen wir, wie sah das »früher« aus, wer lebte noch dort?
Bis dahin hatte es nur meine Eltern in einem Neubau in Gießen gegeben, meine Tante mit ihrem italienischen Leben und ein paar dazugehörige Fotografien. Wir hatten keine Verwandten, nur eine Handvoll »neue Freunde«, einen Leuchter, der alles überlebt hatte, und
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