Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
später im Alter hatten meine Eltern ihre zunehmende Religiosität. Es war alles ziemlich verwirrend.
Damals, mit 14, fuhr ich das erste Mal wieder nach Zagreb und war angetan von der Schönheit der Stadt und ihrer Frauen. Sie trugen leuchtend roten Lippenstift und sahen aus wie Pariserinnen. Auf eine ihrer berühmten Listen hatte mir meine Mutter Namen und Adressen von Freunden aufgeschrieben. Es kam durchaus vor, dass ich klingelte und eine Frau angestürzt kam, mich umarmte, küsste und rief: »Thea, Thea, bist du wieder da?« Dass ich meiner Mutter so ähnlich sah, war mir vorher nicht klar gewesen. Auf der Straße hielten mich Bekannte meiner Eltern zuweilen an: »Bist du die Tochter unseres Jakobs? Sei gesegnet.« Ich sah anscheinend auch ihm ähnlich. Man küsste mich, kniff mir in den Arm. Obwohl es mir peinlich war, bewegte ich mich nicht, ließ die Gefühlsausbrüche geschehen. Die Größe des Augenblicks war mir irgendwie bewusst. Ich besuchte Teta Katha, die unseren Leuchter versteckt und zurückgegeben hatte. Sie wirkte auf mich wie eine Heilige, denn ihre Güte hatte sich in den Erzählungen über die Jahre vervielfacht. Ich glaubte, auch die Brosche am Revers einer Nachbarin zu erkennen. Die Brosche meiner Tante, die sie zum 18. Geburtstag bekommen hatte, die zur Aufbewahrung über die Kriegsjahre bei der Nachbarin gelandet war. Ich grüßte kalt und abweisend, ließ mich nicht umarmen, nicht küssen. Die Brosche blieb an der Jacke der Nachbarin kleben wie Fliegendreck an der Fensterscheibe.
Meine Eltern hatten eine Vergangenheit – das war neu für mich. Sie hatten Nachbarn, Freunde, Schulfreunde, sie hatteneine Geschichte. Bald freundete ich mich mit den Kindern ihrer Freunde an und stellte mir vor, auch in Zagreb zu leben.
Mehrmals im Jahr reiste ich hin und her, verliebte mich, tat alles, was man tut, wenn man eine Stadt neu für sich entdeckt. Wenn ich zurück nach Gießen kam, fragten mich meine Eltern vorsichtig aus. Sie wollten nicht zu neugierig erscheinen, und das Heimweh durfte auf keinen Fall genährt werden. Selbst hinzureisen kam für sie nicht in Betracht, die Angst, nicht wieder ausreisen zu dürfen, war – wenn vielleicht auch irrational – viel zu groß. Sie waren überzeugt, dass man sie spätestens an der Grenze festnehmen, verhören und foltern würde. Also reiste ich allein. Auf dem Hinweg schmuggelte ich kleine Transistorradios und Uhren von namhaften deutschen Firmen, auf dem Rückweg Baccalar, Stockfisch und Gavrilović, die beste Salami Jugoslawiens. In meinem Koffer stank es enorm folkloristisch.
Einmal bat mich sogar das kroatische Fernsehen, bei einem Quiz mitzumachen, Preisfrage: »Wer ist die echte Adriana, Tochter des Partisanenführers Jakob?«
Die Sendung wurde im Studio vor Publikum aufgezeichnet und später übertragen. Zwei andere Mädchen gaben vor, ebenfalls »ich« zu sein. Eine von ihnen wurde als die wahre Adriana identifiziert, ich war es nicht. Ich hatte zu gut gespielt, oder man hielt meinen Akzent für unglaubwürdig. Noch nach Bekanntgabe der Lösung wollte mir keiner so recht glauben.
Jahre später, 1999, Jugoslawien gab es nicht mehr, die Karten waren per Krieg neu gemischt, die Regionen umverteilt und umbenannt, hielt es mein Vater nicht mehr aus: Unter dem Vorwand, seinem Enkel Split zeigen zu wollen, kündigte er an, dass er mit uns reisen würde.
Und so standen wir eines Tages im Juni an der Promenade in Split. Er schnappte sich seinen Enkel und lief los. Traumwandlerisch bewegte sich dieser alte Mann durch die Gassender Altstadt. Keine Abkürzung, kein Versteck hatte er vergessen, er war Kind und Greis in einem.
Hier an dem mittleren Fenster haben wir gesessen, auf dem Peristil-Platz haben sie im Sommer alle großen Opern gespielt. Die gesamte Riege italienischer Tenöre hat hier gesungen! Mario del Monaco? Mein Freund!
Merkst du, wie es hier stinkt? Drunter ist Schwefel! Das mögen die Fliegen nicht, deshalb ist unsere Fischhalle die einzige auf der Welt ohne Fliegen und Mücken! Sagenhaft!
Das eine Fenster gehört zur Musikschule, das andere zu Teta Angelina. Wenn es bei uns knapp wurde mit dem Essen, gab es bei ihr immer noch etwas zu holen. Hier Fußball, da Pingpong, das Klassische Gymnasium … und wenn man den linken großen Zeh von der Statue des berühmten kroatischen Bischofs Grgur Ninski berührt, hat man Glück, ewig Glück!
Gegen Abend setzte er sich in das Café am Platz und hielt Audienz. Da kamen sie alle –
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