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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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Gemeindemitglieder, Ärztekollegen, Partisanen, Freunde, Genossen. Im Stundentakt kamen sie und er hörte ihnen zu. Manche brauchten eine Operation in Deutschland, andere ereiferten sich über die Ungerechtigkeit der neuen Regierung, sie, die Partisanen, nicht zu ehren! Hatten denn nicht sie das Land befreit, zu dem gemacht, was es war? Hatten nicht sie die Ustascha bekämpft ohne Rücksicht auf Verluste in den kargen Bergen Kroatiens?
    Einige saßen nur da und weinten. Sie waren alle entsetzlich alt.
    Ab und zu setzte ich mich dazu. An einem Nachmittag machte die Thorarollengeschichte die Runde: Die Faschisten hatten sich als nächstes Ziel die kleine Synagoge gegenüber ausgesucht und sie in Brand gesetzt. Mein Vater, 18 Jahre alt, war hineingestürzt und hatte die Thorarolle aus der brennenden Synagoge gerettet. Er musste sogar für einige Stunden insGefängnis. Er war ein Heiliger, ein Held. Sie wussten es und er wusste es. Wir gingen hinüber in die kleine Synagoge. Dort hatte mein Vater Bar-Mizwa gehabt, und es gab einige, die dabei gewesen waren. Man schenkte Sliwowitz ein, so lange, bis nichts mehr wehtat und alle Erinnerungen zu einer wurden.
    Es ist 7 Uhr morgens. Ich lande in Wien, Flughafen Schwechat. Umsteigen nach Zagreb. Wie sieht unser rundes Haus jetzt aus? Ob ich es erkenne? Vielleicht finde ich es gar nicht. Ob ich weinen muss? Und was ist aus dem Glasgroßhandel und dem dazugehörigen Wohnhaus geworden? Warum ist meine Mutter mit ihrem Restitutionsantrag gescheitert? Wieso haben sie den Steiners die Restitutionsansprüche bewilligt und uns nicht? Weil sie jetzt Amerikaner sind und einen amerikanischen Anwalt haben?
    Meine große Schwester ist wahrscheinlich noch kleiner geworden … Sie hat einen Sohn, einen Exehemann und einen riesigen Hund. Meine Cousine Dara hat vor allem einen arbeitslosen Ehemann, der während des Krieges beim Militär war und den jetzt niemand mehr braucht. Er sitzt den ganzen Tag im Garten und braut Sliwowitz. Sie haben außerdem eine Tochter. Dara ernährt die Familie, zudem ihren Bruder, der Regisseur ist, und dessen Frau und Kind. Wahrscheinlich habe ich ihr gerade noch zu ihrem Glück gefehlt. Gut, dass meine Cousine Sanja aus Split keine Zeit hat zu kommen. Auch ihr Mann war früher beim Militär, wurde aber von der Polizei übernommen und sammelt jetzt Pistolen. Er hätte wahrscheinlich zur Lösung aller Probleme seine Waffensammlung mitgebracht …
    Genau die richtigen Gedanken für diese Uhrzeit. Die Nacht war auch nicht besser, was erwarte ich auch von einem »Heimaturlaub« in der Fremde. Die Wartehalle ist überfüllt. Müde starre ich in die Runde: Riesige Koffer, Fahrgäste mit Bergen von Tüten – Wien ist eben doch schon Orient, auch wenn esdas nicht gerne hört. Niemand scheint hier von den amerikanischen Nichtraucher-Kampagnen gehört zu haben. Durch Rauchschwaden hindurch sehe ich Menschen, verstehe ich deren Gespräche. Warum auch nicht – Kroatisch ist ja eigentlich meine Muttersprache … Zehn Jahre war ich nicht in Zagreb. Jugoslawien gibt es nicht mehr, ich habe einen Krieg verpasst. Und einen Frieden.
    »Schade, dass Wien nicht bei den Russen geblieben ist«, pflegte meine Mutter hämisch zu sagen. »Das wäre doch die gerechte Strafe gewesen. Für diesen Schmock von Hitler mit all seinen österreichischen Anhängern.« Die Hoffnung auf eine noch nachträgliche Sowjetisierung Wiens hegte meine Familie zeitlebens.
    In der Serviettengasse lebten deine Urgroßeltern. Waschechte Wiener Juden, die in ihrer Wohnung geblieben sind bis zu ihrem Abtransport. – Nur zwei Kinder von ihnen haben sich retten können, nach Melbourne, glaube ich, oder Adelaide, Perth? Unsere Leute sind tot, und Wien ist frei und vergnügt und tut scheinheilig so, als hätte es von alldem nichts gewusst. Dabei konnten sie es gar nicht erwarten, in die Wohnung deiner Urgroßeltern zu ziehen, diese Denunzianten …
    Meine Mutter und meine Tante sind sich in diesem Punkte absolut einig. Selten genug.
    Ich könnte einen anderen Flieger nehmen. Ausgang 12: Tirana, Ausgang 13: Minsk, Ausgang 14: Bukarest, Ausgang 15: Odessa.
    Gut, gut, ich bleibe bei Ausgang 11 und fliege tapfer nach Zagreb. Der Flieger riecht nach billigem Putzmittel und ebenso billigem Sprit. Müdigkeit, Übelkeit, ich schließe die Augen … Sie empfangen mich mit offenen Armen. Am Flughafen schon darf ich den Vertrag zwischen Kroatien und der Bundesregierung über unsere Restitutionsansprüche unterschreiben.

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