Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
letzte Glied gehen, ich werde auf sämtliche gestohlene Silberlöffel Restitutionsansprüche erheben! Das Grab meines Großvaters eigenhändig besetzen, und wenn ich 104 darüber werde! Ich werde …
Man hat mich in die Wohnung meiner Cousine gebracht und mir erstmal Sliwowitz eingeschenkt. Jetzt reicht mir meine Cousine einen starken Tee. Sie ist Apothekerin und Schlimmeres gewöhnt. Der Fernseher läuft auf Schwerhörigen-Lautstärke. Das Essen ist schwer und fettig. Die übrige Verwandtschaft lächelt mich an. Sie haben sich abgefunden.»Leben im Sozialismus« steht dreibändig im Regal. Wenn’s nur der Sozialismus wäre! Was ist mit dem noch munter lodernden Hass der Kroaten gegen die Juden? Und mit einer Kirche, die nicht nur zusieht, sondern auf der Welle eines nationalchristlichen Chauvinismus mitsurft? Es ist dieser Cocktail aus Sozialismus, Antisemitismus, Katholizismus und dem neuen Frühlingsnationalismus, der selbst einen Simon Wiesenthal niederstrecken würde!
Der Nachtisch ist süß und ebenfalls fettig.
Mein Cousin und meine Cousinen sind längst bei anderen Themen. Ihre Mutter Cili ist schwer krank, sie wohnt bei ihnen, und sie pflegen sie im Wechsel, schon seit einigen Jahren. Tag und Nacht. Nun soll auch ihr das Bein amputiert werden. Eine Familienspezialität! Nein, es gibt keine Pflegeversicherung, kein Pflegeheim, kein Geld. Ich habe ganz anderes über den Sozialismus gelesen, aber eben nur gelesen.
Und da komme ich, fasele vom antisemitischen Friedhofsvorsteher: Luxusprobleme. An ihrer Stelle würde ich auch milde lächeln und rauchen. Unvermittelt stehe ich auf, küsse alle überschwänglich und oft, ich muss raus an die Luft, atmen, denken, rennen …
»Die Lufthansa hat mich vorhin angerufen, ich fliege früher als geplant …«, lüge ich rasch. »Ich muss los, sofort!« Lufthansa? Sie sind beeindruckt und perplex. Sie scheinen mir zu glauben oder geben zumindest vor, es zu tun.
Die Luft draußen ist kalt. Ein Bilderbuchhimmel über Zagreb, keine schlechte Geburtsstadt, schade eigentlich. Die Oberstadt mit ihren kleinen Gassen, darunter die Kathedrale Svetog Stjepana. Auf dem Marktplatz verkaufen die Frauen in Trachten ihr Gemüse, ihren Käse, sir i vrhnje. Ich probiere, es schmeckt nach früher. Ich glaube, ziellos umherzustreifen, und stehe doch wenig später vor unserem runden Haus. Es ist genauso schön, wie ich es von den Fotos her kenne. Sie hatten es zwangsverkaufen müssen an die Nazis. Meine Tantehat mir erzählt, dass man ihnen eine Stunde Zeit gab, um es zu räumen. Ihre beiden Hunde durften sie nicht mitnehmen. Einer wurde gleich erschossen.
Wenn ich schon dabei bin … ich laufe weiter zu unserem Glasgroßhandel. Und stehe vor dem Haus, das nicht mehr unseres ist, wie auch diese Stadt nicht mehr meine ist und dieses ganze Land erst recht nicht. Ich weine nicht. Das Haus und ich sind uns fremd, ich fühle nichts, während das Gebäude mich anzustarren scheint. Man muss nur noch ein wenig Zeit vergehen lassen und es wird einfach in sich zusammenfallen, dann hat sich das Thema Restitution endgültig und von selbst erledigt.
Fehlte nur noch … Auf der Hauptpost finde ich tatsächlich die Adresse eines Adriano Altaras. Adriano! Sollte meine Halbschwester nicht gelogen haben? Und wieso sollte mein Bruder Adriano heißen? Wie ich! Waren alle anderen Namen ausverkauft?
Als ich wenig später vor der Türklingel meines angeblichen Bruders stehe, läute ich nicht. Ich brauche dieses Land nicht mehr, genauso wenig wie es mich. Und auf einen eventuellen Bruder, der auch noch Adriano heißt, kann ich auch verzichten.
Wenn ich nicht schon im Exil wäre, ich würde auswandern, und zwar sofort.
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der kotzbrocken
»Wie kannst du nur ein Wiener Schnitzel bestellen, das ist so langweilig«, herrscht mich Raffi nach einer Schweigeminute an. Er hat ja recht. Ich bin umsonst in Kroatien gewesen und schrecklich verheddert in alle möglichen Familiengeschichten zurückgekommen, von Fortschritten in Sachen Restitution ganz zu schweigen. Raffi ist noch dünner als gewöhnlich. Sein Kanadabesuch hat an ihm gezehrt, ein kompletter Reinfall. Was immer er Kritisches über Deutschland berichtete, die Exildeutschen wussten es besser, wandten alles gegen ihn, schrieben es seiner überspannten Wahrnehmung zu, hielten ihn für ideologisch voreingenommen. Nach seiner Rückkehr hat er sich gleich mit einigen Redaktionen überworfen, hat sie als langweilig, antisemitisch, philosemitisch und
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