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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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Hügel Zagrebs. Es ist eng, es gibt wenig Platz für die zukünftigen Toten. Widerwillig begleitet sie uns zum jüdischen Teil des Friedhofs.
    Merkwürdigerweise sehe ich überall nur Kreuze, große und kleine, mit Gold eingeritzten Namen von Toten. Kränze, Blümchen. Wo bleibt der jüdische Teil? Und auf einmal erkenne ich unter all den Kreuzen die Steinplatten. Mit hebräischen Buchstaben, Davidsternen.
    Die jüdischen Gräber werden mittlerweile von den Christen genutzt, umgewidmet sozusagen, weil keine Verwandten mehr Ansprüche erheben. Ein ganz normaler Vorgang, höre ich die Rote sagen. Bisher habe sich auch noch niemand beschwert! Wer soll sich denn bitte schön beschweren? Die Toten? Das Augenlid der Roten zuckt nervös. Immerhin. Wie kann ich aber auch einfach hier auftauchen und den »Normalisierungsprozess« des kroatischen Staates stören? Kerngesund und relativ lebendig erhebe ich Anspruch auf das Grab von Sigismund Fuhrmann, wo doch schon ein christlicher Anwärter wartet …
    Eine Vorahnung von einem nicht ganz so traumhaften Aufenthalt schleicht sich in mein Bewusstsein. Man heißt mich nicht ganz so willkommen, wie ich dachte.
    »Wir haben uns immer um das Grab meines Großvaters gekümmert! Wir haben immer gezahlt! Nicht alle von uns sind tot, auch wenn diese Nachricht Sie ärgern wird, und überhaupt sind jüdische Gräber nicht leer, sondern heilig undunantastbar, wenigstens für uns!«, rufe ich, meine Cousine lächelt tapfer und angestrengt. Die rauchende Rote ist verschwunden. Wir stehen am Grab meines Großvaters.
    Als ich mich niederknie, um ein Kreuz, das auf dem Stein liegt, zur Seite zu schieben, sehe ich, dass ein weiterer Stein an dem meines Großvaters lehnt: Anna Gaun, geboren in Zagreb, gestorben in New York.
    Ich erinnere mich.
    »Adriana, hör zu!« Meine Mutter schreit ins Telefon. Weiß sie nicht, dass Telefone die Verständigung erleichtern sollen?
    »Du wirst den Grabstein nach New York bringen. Unsere arme Cousine Anna ist in New York gestorben. Am Schluss hat sie niemanden mehr gehabt dort drüben. Ich nähe dir eine Tasche zum leichteren Transport. Du bringst den Grabstein rüber und stellst ihn auf einem Jüdischen Friedhof auf, davon gibt es reichlich in Brooklyn. Ja, egal auf welchem. Auf dem Rückweg bringst du die Partisanenmütze deines Vaters und meine Stiefel in das Washington Holocaust Memorial-Museum. Du bekommst freien Eintritt. Wir haben ihnen schon geschrieben. Sie erwarten dich. Es wird sicherlich interessant. Ist dein Pass noch gültig? –
    Warum WIR nicht fahren??? Nie! Aber auch nie kann man dich um einen Gefallen bitten! Du denkst immer nur an dich! Arme Anna!«
    Annas Grabstein lehnt zärtlich an dem meines Großvaters. Wie ist der Stein nach Zagreb gekommen? Und wieso überhaupt hierher? Weil sie hier geboren wurde? Und wo genau liegt sie? Ich weiß nichts von ihr bis auf ihre Grabsteinproblematik.
    Ich schiebe die Kränze und Blumen beiseite. Die gefärbte Rothaarige ist zurück. Sie hat Verstärkung mitgebracht, einen Friedhofswärter, der den Klitschko-Brüdern unglaublich ähnlich sieht. Sie grummelt, der Platz sei bereits reserviert. Ich starre sie an. Meine Mutter hätte die rote Friedhofsraucherinkurzerhand angebrüllt. Den Friedhofsboxer blamiert. Aber ich schweige. Mir fehlt das geeignete kroatische Beschimpfungs-Vokabular. Ich denke, dass die Rote nicht weiß, dass man die jüdischen Toten nicht stören darf. Nicht aus-, nicht umgraben. Dass sie die ewige Ruhe genießen dürfen, endlich.
    Aber wie soll sie das wissen, wo die jüdischen Lebenden sie auch nicht interessieren. Ich denke, dass ich etwas sagen muss, aber es ist zu groß, das Thema, und meine Mutter und Großvater Sigismund sind tot. Ich denke an meine Mutter und daran, dass Kroatien noch lange nicht fertig ist mit uns.
    Irgendwann atme ich wieder.
    Man zupft mich am Ärmel. Es ist meine Cousine, sie redet auf mich ein, es sei Zeit zu gehen, hier würde heute nicht mehr viel passieren … Sind Minuten vergangen oder Jahre?
    Ich werde sie verklagen, die rauchende Rote aus dem Friedhofsbüro mitsamt ihrem Friedhofs-Luden und den gesamten kroatischen Saftladen! Ich bin auch noch lange nicht fertig mit ihnen! Ich werde dafür sorgen, dass der Botschafter Kroatiens in Deutschland kein Auge mehr zubekommt, dass die Presse von nichts anderem mehr berichten wird, und dass Kroatien nie, nicht in zehn, nicht in zwanzig, nicht in hundert Jahren Mitglied der EU wird!
    Mein Hass wird bis ins

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