Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Dann fährt man mich in einer schwarzen, imposanten Limousine zum »Trg Jossipa Broza Tita«. Als wir am Tito-Platz halten, malen drei uniformierte Staatskünstler auf ein großes farbiges Schild: »Trg Sveta Democracija«, ich bin beeindruckt und kann es kaum fassen: der Platz heißt nun »Platz der Heiligen Demokratie«. Alle sprechen nahezu akzentfrei Deutsch, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde sitzt händchenhaltend mit Präsident Tudjman neben mir. Schön. Eine zehn Meter hohe Gedenktafel, noch eingehüllt, steht imposant vor mir – ich darf am Zipfel ziehen und der Text wird sichtbar: »Den jüdischen Partisanen ihre Heimat Kroatien! Ihr Land, ihre Leute.« Der Oberbischof Zagrebs und ich gratulieren uns gegenseitig. Europas Geschichte ist endlich an ihrem liebevoll erfüllten Ziel.
Die Limousine wartet auf mich. Der Chauffeur ist freundlich, sein Akzent österreichisch – wie schön Europa doch ist! Man sollte die Kroaten sofort in die EU aufnehmen. Sie haben es verdient, allein ihrer feinen Aussprache wegen und der herrlichen Palatschinken dazu. Man wird mich zu meinem Bruder bringen. Er ist beschäftigt und empfängt in seinen Büroräumen. Er ist Minister oder noch was Feineres.
Ich muss lächeln. Mein Kroatisch geht mir samtweich von den Lippen. Man verliert eben nie seine innige Beziehung zur Muttersprache. Die Straßen rauschen vorbei. Alles ist viel schöner geworden, renovierter. Die Mädchen sehen immer noch aus wie Pariserinnen – dafür sind die Jungs auch eleganter geworden. Vergnügt sitzen sie mit riesigen Sonnenbrillen auf ebenso riesigen Rattanmöbeln in der Sonne. Mit überdimensionalen Strohhalmen trinken sie Cocktails in Regenbogenfarben. Ich werde hierher ziehen. Mitglied der Jüdischen Gemeinde Zagrebs werden und mit den Kindern und Kindeskindern der Freunde meiner Eltern ein ganz normales, riesiges Leben führen. Ich wühle nervös in meiner Handtasche nach meiner Staatsangehörigkeit. Die Domovnica , sie ist noch da! In einer überdimensional großen Klarsichthülle.Ich werde hier untertauchen, ganz von vorne beginnen – ein beseelendes Gefühl. Ich werde unser Haus zurückbekommen und es liebevoll renovieren. Der Wagen hält an einer Kreuzung, ich lese: »Glavna kavana Corso«. Operncafé. Hat mal meinem Großvater Sigismund gehört. Die Gäste winken mir zu. Vielleicht freuen sie sich ja, die Enkelin kennenzulernen, und brühen mir einen besonders starken guten Kaffee …
»Dragi putnici, mi cemo se skoro spustiti u Zagrebu.« Die Stimme des Kapitäns läutet die Landung ein, schon ertönt die Nationalhymne in voller Lautstärke, die Passagiere klatschen, singen mit. Ich schrecke hoch.
Ja! Und da bin ich auch schon. Der Flughafen – ich lese, verstehe, mein Herz klopft vor Glück! Zagreb glavni Aerodrom .
»Adriana! Adriana! Dobro dos˘la! Wie schön, dass du gekommen bist!« Ich schaue in ein Gesicht, das in einfachem Kroatisch laut und überdeutlich mit mir spricht. Es ist ältlich, nicht gerade schön, aber es öffnet und schließt seinen Mund. Wo ist der Chauffeur mit dem österreichischen Flair? Wo ist meine k. u. k.-Limousine? Ich verstehe nicht. Das Gesichtchen, das zu mir spricht, gehört meiner Cousine Dara, und der riesige Chauffeur ist ihr Mann, die Männer scheinen hier wirklich Übergröße zu haben. Er spricht kein Wort Deutsch, stattdessen nimmt er meinen schweren Koffer und wirft ihn spielend in den Kofferraum. Mit ihrem klapprigen Auto fahren wir direkt zum Friedhof. Zum städtischen Friedhof Mirogoj in Zagreb. Das Verwaltungsbüro ist muffig. Ich lege meine Unterlagen auf den Tisch. Es wird geraucht, geplaudert, im Zeitlupentempo werden Formalitäten erfasst. Das Grab meines Großvaters Sigismund soll heute auf mich umgeschrieben werden. Der Rauch landet fortwährend bei mir, ich habe nicht gefrühstückt, mir ist schlecht. Das ist also die Wirklichkeit.
Drei rot gefärbte Slawinnen bestreiten hier den bürokratischen Alltag, wobei sie sich möglichst wenig bewegen. IhreHaare erinnern mich an Milva oder an die Puppen auf der Kirmes, die man an den Schießbuden gewinnen kann, deren Haare fuchsrot sind und leise knistern. Die Rothaarigste grinst mich schließlich an, ohne das Rauchen oder den Redeschwall zu unterbrechen. Meine Exjugoslawisch-Kenntnisse lassen zunehmend nach, aber einen Satz verstehe ich klar und deutlich: »Ne ide. Es geht nicht. Ne možete vise dobiti. Sie können das Grab nicht mehr bekommen.«
Der Mirogoj Friedhof liegt auf einem der
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