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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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neokonservativ bezeichnet. In welcher Reihenfolge, weiß er nicht mehr. Wir sind Versager, beide.
    »Mir schmeckt’s trotzdem«, posaune ich. »Ich bin froh, wieder im amerikanischen Sektor zu sein, und das Borchardt, obwohl ein Politikerschuppen, hat eins der besten Wiener Schnitzel der Stadt!«
    »Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«, giftet Raffi. Es scheint ernst zu sein.
    »Hast du Ärger mit deinen jüdischen Liebschaften?«, frage ich, nicht ganz ohne Häme.
    Das aktuelle Versuchsmodell, eine Israelin, lässt ihn nicht arbeiten. Die erste Zeit der absoluten Nähe sei himmlisch gewesen. Nun brauche er seine Ruhe, seinen Laptop und einige Stunden Konzentration. Eifersüchtig überwache sie jede seiner Bewegungen, das tue sie aber, weil sie ihn so unendlich liebe, ihn so gut verstehe. An Arbeit sei nicht mehr zu denken, alles aus dem Wunsch nach Nähe zu ihm …
    »Ich fliege zurück nach Tel Aviv!«, drohe sie stündlich, wenn er arbeiten wolle.
    »Lass sie fliegen«, sage ich und kaue weiter.
    »Sie ist ein Traum«, sagt Raffi.
    »Dann erst recht«, sage ich. Und so weiter und so weiter.
    Raffi ist beleidigt. »Rat mir gut, aber rat mir nicht ab!« Eine alte Familienweisheit, die immer wieder verdammt gut passt, denke ich.
    »Du machst dir was vor!«, beginnt er einen wohl länger konzipierten Gedanken. »Deine Deutschen sind auch nicht besser, im Gegenteil. Ich mache mir Sorgen um dich …«
    »Um mich?« Fast hätte ich mich verschluckt. Raffi macht sich Sorgen um jemand anderen als um sich selbst.
    »Ja, um dich. Du lebst in einer Lebenslüge …«
    Aha! Jetzt geht es wirklich um mich! Er will sich rächen. Dummerweise trifft er damit einen wunden Punkt. Die Lebenslüge! Eine meiner größten Sorgen ist, in einer Lebenslüge gefangen zu sein und es gar nicht oder erst viel zu spät zu bemerken: der Mann, der einen betrügt, die Kinder, die einen hintergehen, Verwandte, die einen ausnehmen. Ein ganzes Meer von Lügen, Geheimnissen. Wahrscheinlich bin ich deshalb eine große Verehrerin von Ibsen.
    »Lebenslüge?«, stammele ich. »Wieso ich? Sprachen wir nicht gerade von dir und deiner unglücklichen Liebschaft mit der Israelin?«
    »Im tiefsten Innern bleiben deine Liebhaber immer Deutsche. Alle, die du glaubtest zu lieben und die dich ebenfalls zu lieben vorgaben.« Er lässt nicht locker, zudem wird er auch noch poetisch!
    »Sie fühlen und denken deutsch. Sie können nichts von dir verstehen, von uns. Wenn sie das überhaupt wollen. Ich schwöre es dir!«
    Raffis Gesicht ist gelb. Die Deutschen treiben ihm die Galle hoch, was ihn noch mehr ärgert.
    »Meine Ex zum Beispiel!«, fährt er fort. »Wir haben neulich irgendetwas gefeiert, und mein Vater hat sich danebenbenommen. Das tut man nicht, aber er tut es halt, das ist nichts Besonderes, er hat schlechte Manieren. Als er zur Tür raus ist, schreit sie: Ich hasse euch Juden! Alle! Und das vor dem Kind.«
    »Die übergetretene Ex?«, frage ich.
    »Ja, die.«
    »Was hast du gemacht?«
    »Ich habe mich souverän benommen wie diese Männer im Kino, wie ein Deutscher oder Amerikaner. Ich habe sie angeschrien: Reiß dich zusammen!«
    »Und? Hat sie das?«
    »Ja, hat sie, plötzlich schwieg sie.«
    »Sie ist eben keine Jüdin. Bei einer Jüdin hätte das nicht funktioniert«, bemerke ich lakonisch.
    »Sie hörte sofort auf zu zetern und schwieg. Gehorsam, autoritätsfixiert.«
    »Das spricht nicht unbedingt gegen sie. Sie benimmt sich daneben und schämt sich dafür«, gebe ich zu bedenken. »Eine Jüdin wäre noch jetzt am Keifen …«
    Ein Punkt für mich, mein lieber Raffi!, denke ich. Ich bin der eindeutige Sieger, was unsere Wette angeht. Jedenfalls bis jetzt.
    »Weißt du, Raffi, zwei Juden zusammen sind …«
    »Das ist nicht lustig!« Raffi ist ernst, fast möchte man meinen: verkniffen.
    »Hey, Raffi!«, scherze ich, »ist doch nur eine Wette, mehr nicht …« Jetzt ist er wütend. Er kann nicht verlieren.
    »Raffi, schau es dir doch mal an! Du und deine Israelin! Zwei Juden, die Potenzierung aller Neurosen. Es ist so ungeheuer anstrengend, dass ihr zu nichts anderem mehr kommt … nicht zum Arbeiten, nicht zum Einkaufen, Essen. Ihr geht aneinander drauf.«
    »Ja, es ist anstrengend. Aber es ist ehrlich. Ein ehrlicher Tod.«
    Ist ein ehrlicher Tod gesünder als ein unehrlicher?, denke, aber sage ich nicht. Heute ist mit Raffi nicht zu spaßen. Wir hängen unseren Gedanken nach. Sie sind sexuell. Meine zumindest. Ich gehe im Geiste durch,

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