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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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ob es wirklich sexuelle Vorteile bei den jeweiligen Partnern gibt. Raffi schwärmt in seinen Berichten mir gegenüber meist von den unglaublichsten erotischen Abenteuern, um die ich ihn schwer beneide, wenn ich auch etliche für erfunden halte. Meine spielen sich im eher bescheidenen, konventionellen Rahmen ab. Ich schreibe das mehr dem Zufall als der Religionszugehörigkeit zu.
    Wir teilen uns das Dessert. Es ist ausgezeichnet. Das hebt unsere Stimmung nicht im Geringsten. Raffi spricht wieder über sich, seine Sorgen, wechselt schnell zu seinen Depressionen. Mit wenigen Stichworten halte ich seinen Redefluss im Gang.
    Die Liebe lassen wir kurzzeitig außer Acht.
    »Hast du schon gehört? Ben Becker ist plötzlich Jude geworden.«
    »Der Tennisspieler?«, frage ich.
    »Nein, der Schauspieler.«
    »Aber er war doch als Schauspieler ganz erfolgreich – wozu dann das?«
    Wir löffeln weiter.
    »Anne Frank hat einen Ausstellungsraum im II . Hinterhaus unter dem Dach bekommen. Haargenau wie ihr Versteck. Passend zu ihrer Geschichte. Also …«
    Mir graut vor der Parallele.
    »Ein Zufall«, sagt Raffi.
    Wir bestellen Kaffee, als sich ein dicklicher Herr unaufgefordert zu uns setzt. Er scheint ein Kollege Raffis zu sein – jedenfalls klopft er ihm derart freundschaftlich auf die Schultern, dass ich fürchte, Raffi könnte sich auf den Dessertteller übergeben. Ein wichtiger Redakteur, vermute ich. Bleich steht Raffi auf, entschuldigt sich und verschwindet in Richtung Toilette.
    Die Zähne des Dicken sind gelb, als er grinst und nach meiner Serviette greift. »Für den Schweiß«, feixt er und verteilt diesen gleichmäßig über das ganze Gesicht. Ich verschwinde allmählich in der Espressotasse.
    »Warum sind eigentlich alle Juden solche Kotzbrocken?«, fragt mich dieser Berg völlig unvermittelt.
    Ich hebe den Kopf. Von Raffi keine Spur. Die Zähne vor mir sind eher hellbraun als gelb.
    »Äh, hm. Ja, also …«
    Er scheint auf eine Antwort zu warten.
    »Alle?«, frage ich. »Wer genau?«, und kratze pedantisch den Zucker vom Boden meiner Espressotasse.
    »Nun, Raffi, Henryk, Michel, Maxim, wie sie alle heißen, ist doch nicht auszuhalten. Einfach nicht mehr auszuhalten. Nicht mehr. Die Zeiten sind vorbei, wo man sich von solchen Leuten tyrannisieren ließ. Die Zeiten sind vorbei. Sind Sie auch eine?«
    »Freundin, meinen Sie?«, frage ich. »Ja, ich bin eine alte Freundin von Raffi. Seit vielen Jahren«, übertreibe ich.
    »Nein, meine Liebe. Nein. Ich meine Jüdin und so.«
    »Ach so, na ja, das bin ich, ja, bin ich – wieso?« Ich lispele – Gott, ich lispele plötzlich. Ich bin blöder als sonst. Gott, bin ich blöd.
    Der dicke Mann, der aussieht wie ein aufgedunsener Tenor, zeigt mir seine hässlichen Zähne jetzt ganz aus der Nähe. Ich kann nicht fassen, was da gerade passiert.
    Die übrigen Gäste löffeln ihre Suppen. Ein Zahnstocher klemmt zwischen seinen Seitenzähnen. Er zieht ihn hin und her, aber er will sich nicht bewegen. Da könnte ich ein wenig nachhelfen, denke ich. Ich bin mir inzwischen sicher, dass Raffi auf der Toilette des Restaurants mindestens duscht.
    »Man kann es den anderen nicht mehr zumuten. Solche Kotzbrocken. Ich kann sie bei uns nicht mehr dulden.«
    Er kann mit eingeklemmtem Zahnstocher sprechen!
    »Den anderen?«, frage ich schließlich.
    »Ja«, grinst er.
    »Wem genau? Den Nichtjuden?«
    »Ja denen, genau, und allen anderen.«
    Warum hat der sich gerade mich als Gesprächspartner ausgesucht in einer 3,5-Millionen-Metropole? Gott weiß es.
    »Sagen Sie doch mal«, macht er weiter, »Sie als Jüdin, sagen Sie mal … wie Sie das so sehen …«
    »Ich, ich …«
    Bisher war ich felsenfest davon überzeugt, dass Raffi eine Paranoia hat von der Art: »80 % aller Deutschen sind Antisemiten, glaub es mir …«
    Hat Raffi das hier eingefädelt, um mich zu radikalisieren?
    »Ich, ich …«
    Ich stottere sonst nie. Schwitze auch nicht. Aber jetzt rollen mir kleine Schweißperlen den Rücken herunter. Es wäre schon angebracht, wenn ich jetzt etwas sagen würde.
    »Es geht doch um Inhalte«, stammle ich. »Inhaltliches.«
    »Bitte?«, höre ich den Brocken singen.
    »Ja, Inhalte, Werte. Vielleicht, könnte ja sein, haben diese ›Kotzbrocken‹ etwas zu sagen. Etwas Interessantes eventuell. Nicht ganz so lustig, unpassend für Sie. Sie sagen es vielleicht zu direkt, aber sie haben eben etwas zu sagen. Etwas, das all diesen ›Anderen‹ nicht passt.«
    Raffi scheint auf der

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